Journal für ergotherapeutische
Forschung und Lehre JEFL 1/2001
"Betätigungen"
von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen.
Eine explorative Studie
Ulrike
Dürrbeck,
Waldquellenweg 2, 33649 Bielefeld, E-Mail:
ulrike-duerrbeck@onlinehome.de
Die Arbeit wurde bei
der Fachhochschule Osnabrück im Weiterbildungsstudiengang Ergotherapie als 2.
Hausarbeit angefertigt
Stichworte:
Qualitative Forschung, Case Reports, CMOP, MOHO, Handlungstheorie,
Mehrfachbehinderungen, Geistige Behinderung
1.1 Menschen mit
schweren Mehrfachbehinderungen, eine Begriffsklärung
1.2 Ergotherapeutische
Ansätze zur Klärung des Begriffes ‚Betätigung'
1.2.1 Haben
Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen beobachtbare Betätigungen
(‚occupations')?
1.2.2 Relevante
Aspekte des Kanadischen Modells der Occupational Performance
1.2.3 Relevante
Aspekte des Models of Human Occupation (MOHO) von Gary Kielhofner
2 Methoden
2.1 Theoretische
Grundlagen zur methodischen Vorgehensweise dieser Arbeit
2.1.1 Kennzeichen
qualitativer Sozialforschung
2.1.2 Die
Einzelfallstudie
2.1.3 Methoden,
die in diesen Einzelfall-Studien angewandt wurden
2.2 Erfahrungen mit der methodischen
Vorgehensweise im Rahmen dieser Arbeit
2.3 Das
Lebensumfeld der untersuchten Personen
2.3.1 Beschreibung von Haus A.,
dem Wohnort von Herrn A.
2.3.2 Beschreibung von Haus B.,
dem Wohnort von Herrn B.
2.3.3 Beschreibung der
Seniorentagesstätte, Haus St., Ort der tagesstrukturierenden Maßnahme von
Herrn A.
2.3.4 Beschreibung der
Werktherapie Haus Wt., dem Arbeitsplatz von Herrn B.
2.4 Beschreibung
der beiden untersuchten Personen
2.4.1 Beschreibung von
Herrn A.
2.4.2 Beschreibung von
Herrn B.
3 Darstellung der Beobachtungen
der Untersuchung
3.4 Ein
Tagesablauf im Leben von Herrn A.
3.5 Ein Tag im
Leben des Herrn B.
3.3 Betätigungskategorien
von Herrn A.
3.4. Betätigungskategorien
von Herrn B.
4 Auswertung der Ergebnisse der
Beobachtungen
4.1 Ziele und
Absichten der beobachteten Aktivitäten
4.2 Zusammenhänge der beobachteten Aktivitäten mit dem
Umfeld
4.3 Benennung und Identifikation der
Aktivitäten durch die Handelnden
4.4 Die Bedeutung der Aktivitäten für die
Handelnden
4.5 Zusammenfassung
5 Diskussion:
Sind
aufgrund der Ergebnisse der Studie
das Model of Human
Occupation nach Kielhofner (MOHO) und
das Kanadische
Modell der Occupational Performance
eine Hilfe zur
Erfassung und Darstellung des
Betätigungsverhaltens von Menschen mit
schweren Behinderungen?
5.1 Die
Anwendbarkeit des Models of Human Occupation nach
Kielhofner bei Herrn A.
5.2 Die
Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occupational
Performance auf Herrn A.
5.3 Die Anwendbarkeit des Models of Human Occupation nach Kielhofner bei Herrn B.
5.4 Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occuaptional Performance auf
Herrn B.
6
Zusammenfassung,
Ausblick
8. Anhang
‚Betätigungen von Menschen mit schweren
Mehrfachbehinderungen‘ lautet der Titel der vorliegenden Arbeit. Betätigungen
oder auch Beschäftigungen sind der grundlegende Inhalt der Arbeit eines
‚Beschäftigungstherapeuten‘, wie unser Beruf noch bis vor kurzem genannt wurde.
Die Autorin soll im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit unter anderem
Freizeitangebote für Menschen mit schweren Behinderungen entwickeln und
durchführen.
Wie aber können solche Angebote aussehen? Was bedeutet
Freizeit für diese Personengruppe? Welche Tätigkeiten gehören in diesen
Bereich? Und was ist, wenn Betätigungen, Tätigkeiten, Beschäftigungen, mit
denen Menschen für gewöhnlich ihr Leben gestalten, nicht mehr möglich sind oder
vielleicht nie möglich waren? Was ist, wenn Menschen aufgrund ihrer Behinderungen
nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, eigenständig tätig zu
werden, sondern auf den ersten Blick nur ‚Objekt‘ des Tätigwerdens anderer
Menschen, in der Regel ihrer Betreuter sind?
Bevor eine Antwort auf die Frage
möglich ist, wie Freizeit- oder auch Arbeitsangebote für diese Personengruppe
aussehen können, müssen zunächst grundlegendere Fragen beantwortet werden.
-
Wie sehen überhaupt Betätigungen von
Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen aus?
-
Was lässt sich beobachten?
-
Kann man bei Menschen, die fast
ausschließlich auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind, überhaupt von
Betätigungen sprechen?
-
Mit welchen Begriffen lässt sich das
Betätigungsverhalten beschreiben?
Diesen Grundfragen möchte die Autorin in ihrer nachfolgenden
Arbeit nachgehen. Sie hat deshalb zwei Menschen mit schweren
Mehrfachbehinderungen jeweils einen Tag lang in einer großen Einrichtung der
Behindertenhilfe in Norddeutschland begleitet und beobachtet.
Die Ergebnisse dieser Beobachtungen werden ausgewertet und
in Bezug gesetzt zu zwei Modellen der Ergotherapie. In der vorliegenden Studie
sollen das ‚Kanadische Modell der Occupational‘ (CMOP) sowie das ‚Model of
Human Occupation‘ von Gary Kielhofner (MOHO) näher betrachtet werden. Diese
beiden Modelle, wurden in den letzten Jahren auch in Deutschland bekannt, und
sollen nun herangezogen werden mit der Fragestellung, ob sich in den Modellen
Begriffe und Vorstellungen finden, die hilfreich sind für das Verständnis des
Betätigungsverhalten von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen.
1.1 Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen,
eine Begriffsklärung
Der Begriff ‚Behinderung‘ (Handicap) beinhaltet nach der Definition
der WHO die Nachteile, die eine Person aus einer Schädigung (Impairment) oder
Beeinträchtigung (Disability) hat. Ulrich BLEIDIECK (1977) definiert den
Begriff ‚Behinderung‘ folgendermaßen: „Als behindert gelten Personen, welche
infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen
Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren
Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert
wird.“
Behinderung ist somit nach BLEIDICK nicht alleine die Schädigung,
sondern auch die daraus resultierende gesellschaftliche Beeinträchtigung.
Bedingungen und Erwartungen einer Gesellschaft können auf diese Weise mit zu
Beeinträchtigungen und Benachteiligungen führen.
In der Medizin gibt es noch keine eindeutige Definition von
‚Behinderung‘. Die BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR REHABILITATION (1984) kommt zu
folgender Formulierung: „ Es handelt sich hier um einen im anatomisch –
physiologischen Bereich anzusiedelnden, vielschichtigen und gegen die
verschiedenen benachbarten Bereiche nicht immer leicht abzugrenzenden
Sammelbegriff. Zu der Feststellung dieser relativen Unschärfe des Begriffs
‚Behinderung‘ kommt die Tatsache hinzu, dass der Terminus nicht ausreicht, um
die Gesamtheit der hier angegebenen Sachverhalte zu erfassen und die
verschiedenen Ebenen aufzuzeigen, in denen ‚Behinderung‘ wirksam wird.“
In der Pädagogik wird der Schwerpunkt der Definition auf die
Erschwernis der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft gelegt, so gelten laut
der Empfehlung der Bildungskommission des DEUTSCHEN BILDUNGSRATES (1973) Menschen als behindert, „...die in ihrem
Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den
psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilnahme
am Leben in der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie
besonderer pädagogischer Förderung.“
Bei einer Mehrfachbehinderung werden nach
SOLAROVA (1975) drei Kategorien unterschieden:
1. Die „Mehrfachbehinderung durch schicksalhafte
Kumulierung („Sekundär-schädigung“)“ verschiedener Schädigungen mit
unterschiedlichen Ursachen.
2. Die
„Mehrfachbehinderung als Folge eines Schädigungssyndroms („multipler primärer
Defekt“)“
3. Die
„Mehrfachbehinderung als Folgebehinderung („konsekutive Verbildungen“) einer
anderen Behinderung.
Der Begriff ‚Schwerstbehinderung‘ ist eine Steigerung des
Begriffes ‚Mehrfach-behinderung‘, um einen erhöhten Förderungsbedarf
anzuzeigen. Der Begriff ‚Schwerbehinderung‘ ist in Deutschland in Verbindung
mit gewissen Rechtsansprüchen zu sehen. In anderen Ländern ist die
‚Schwerbehinderung‘ nur ein anderes Wort für ‚Schwerstbehinderung‘.
Der Begriff Menschen mit ‚schweren Mehrfachbehinderungen‘
ist ein Synonym für den Begriff ‚Schwerstmehrfachbehinderung‘, der von der
Autorin als Wortungetüm betrachtet und deshalb von ihr nicht verwendet wird.
Die ‚geistige Behinderung‘ lässt sich nach BACH (1982)
„charakterisieren als stark regelabweichendes, längerfristiges Vorherrschen
anschaulich- vollziehenden Denkens... Dieses anschaulich- vollziehende Denken
und entsprechendes Lernen ist durch noch wenig ausgeprägte Vorstellung von
Gegenständen und ihren Beziehungen gekennzeichnet und hat dementsprechend noch
eine verhältnismäßig unentwickelte Steuerungsfunktion - auch für
Wahrnehmungsprozesse, Interessenbildung, sprachliches, soziales, gefühlsmäßiges
Verhalten. Daher sind Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur hinsichtlich
ihrer geistigen Situation, sondern auch in den anderen genannten Bereichen mehr
oder minder schwer beeinträchtigt- ganz abgesehen von häufig dazukommenden
Körperbehinderungen, Sinnesschäden, Erkrankungen und anderen
Benachteiligungen.“
Eine geistige Behinderung geht in der Regel auch mit einer
mangelnden Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft einher. Der DEUTSCHE
BILDUNGSRAT geht in einer Definition von 1973 von lebenslanger sozialer und
pädagogischer Hilfe aus. Eine Bildungsunfähigkeit sollte nicht mehr festgelegt
werden, da „grundsätzlich bei allen Menschen die Bildungsfähigkeit angenommen
werden muss.“
Behinderung ist kein statischer, sondern ein dynamischer
Prozess, der bedingt wird sowohl durch die individuellen Schädigungen als auch
die Bereitschaft der Gesellschaft ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen mit
Behinderungen sich entwickeln können und
Lebensbedingungen vorfinden, die ihren Bedürfnissen entsprechen. Nach THEUNISSEN (1989, 13) handelt es sich
bei den Begriffen Behinderung, Schwerstbehinderung u.ä. stets um „askriptive
Phänomene, die sich durch das Urteil einer anderen Person ergeben“ und die
somit subjektiv sind. THEUNISSEN hält eine genaue Abgrenzung der Begriffe
voneinander für problematisch und fordert einen behutsamen Umgang mit diesen
Begriffen, „um Diskriminierung, Stigmatisierung, Aussonderung und Isolation der
Betroffenen zu vermeiden.“
Die beiden in dieser Arbeit untersuchten Personen werden der
Gruppe von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen zugerechnet, obwohl das
Ausmaß ihrer jeweiligen Behinderungen sehr unterschiedlich ist. Die Autorin hat
bewusst zwei sehr unterschiedliche Menschen dieser Gruppe ausgewählt, um daran
deutlich machen zu können, wie sehr in dieser Personengruppe differenziert
werden muss und wie unterschiedlich und individuell jeder einzelne ‚Fall‘
betrachtet werden muss.
Bei Herrn A. handelt es sich um einen über siebzigjährigen
Mann mit schweren körperlichen und leichten geistigen Einschränkungen, der im
Vergleich zu Herrn B. einem achtundzwanzigjährigen jungen Mann, mit sehr
schweren Behinderungen, ein vergleichsweise aktives und selbstbestimmtes Leben
führen kann, was für Herrn B. fast gar nicht mehr möglich ist. Herr B. ist
vollständig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen und darauf, dass andere
seine Bedürfnisse, die er kaum äussern kann, erkennen. Im zweiten Kapitel
werden diese beiden Personen näher beschrieben.
1.2 Ergotherapeutische
Ansätze zur Klärung des Begriffes ‚Betätigung‘
Die
Ausführungen der nächsten Kapitel wurden auf der Grundlage englischsprachiger Literatur
(vergl. Literaturverzeichnis) erstellt. Die Übersetzungen der Zitate und der im
Verlauf gebrauchten Inhalte erfolgten durch die Autorin und werden im einzelnen
nicht gekennzeichnet.
‚Betätigungen / Beschäftigungen können definiert werden als
die „gewöhnlichen und familiären Dinge, die Menschen jeden Tag tun.“ (CHRISTIANSEN, CLARK, KIELHOFNER & ROGERS, 1995,
1015). Weitere Definitionen nach CLARK, PARHAM, CARLSON, FRANK,
JACKSON, PIERCE, WOLFE & ZEMKE (1991)
schlagen vor, dass diese Tätigkeiten benannt und beschrieben werden
können. Der Kanadische Verband der Ergotherapeuten (CAOT) definiert
Betätigungen als „Aktivitäten oder Aufgaben, die die zeitlichen und
Energieressourcen eines Menschen beanspruchen; dazu gehören insbesondere die
Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit.“ (vergl. Canadian Association of Occupational
Therapists, 1995, 140). KIELHOFNER festigt diese Definitionen
schließlich (1995), indem er menschliche Betätigungen als „das Erledigen einer
kulturell bedeutungsvollen Aufgabe, von Spiel oder Alltagsaufgaben im Verlauf
des Lebens und im Kontext der eigenen körperlichen und sozialen Umwelt“
beschreibt.
In der kanadischen Definition werden die drei Bereiche
genannt, die für den Kontext dieser Arbeit von Bedeutung sind, Betätigungen in
den Bereichen Freizeit, Produktivität und Selbstversorgung. Die Forderung
danach, diese Betätigungen benennen und beschreiben zu können führt zu der
ersten Frage, wie die im Alltag von Herrn A. und von Herrn B. stattfindenden
Betätigungen benannt und beschrieben werden können und ob sie einer der drei
Kategorien Freizeit, Produktivität und Selbstversorgung zugeordnet werden
können. Die Definition von Kielhofner fordert zudem, dass den Betätigungen eine
Bedeutung zugeschrieben wird. Auch diese Frage wird im Verlauf der Forschung
immer wieder von der Autorin an die Beteiligten gestellt werden.
Andere Autoren, wie EVANS ( 1987, 627) schlagen vor, dass
Betätigungen sich in einer „zielgerichteten, innerlich befriedigenden und
kulturell geschätzten Aktivität äußern.“
In der anglo- amerikanischen ergotherapeutischen Diskussion um die
Definition des Begriffes ‚Betätigung‘ stellte sich die Frage, ob eine Betätigung wie ‚Meditation‘
als ‚Aktivität‘ gelten kann, da sie zwar absichtsvoll und gewinnbringend, aber nicht
aktiv ist. ‚Betätigungen‘ werden in der ergotherapeutischen Literatur entweder
von dem Begriff ‚Aktivitäten‘ abgegrenzt oder ihm gleichgesetzt. ‚Betätigungen‘
sind nach CHRISTIANSEN et. al. (1995) umfassender, komplexer und
ausdrucksstärker als einzelne zielbewusste Aktivitäten. So stellt
beispielsweise das Kartoffelschälen
eine zielbewusste Aktivität, der Vorgang des Mittagessenkochens für die Familie
jedoch eine Betätigung dar.
Zusammenfassend
haben nach CHRISTIANSEN (1995, 7) Betätigungen
1. immer
ein Ziel oder verfolgen eine Absicht, und finden
2. in
Situationen oder Zusammenhängen statt, die auf sie einwirken.
3. können
sie vom Ausführenden benannt und identifiziert werden und
4. sind
sie für den Menschen, der sie ausführt, von Bedeutung.
FIDLER und VELDE (1999, 2) verwenden die Begriffe
‚Betätigung‘ und ‚Aktivität‘ austauschbar. Beide Begriffe werden verwandt, um
eine Anzahl voneinander abhängiger Aktionen oder Situationen zu beschreiben,
die die aktive körperliche oder geistige Beteiligung eines Menschen erfordern,
um das beabsichtigte Ergebnis oder Endprodukt dieser Aktionen oder Situationen
zu erreichen. FIDLER schlägt vor, folgende Elemente für ‚Betätigungen‘ oder
‚Aktivitäten‘ zugrunde zu legen:
-
„ Struktur
und Form: dies beinhaltet Regeln, Vorgänge, Zeitelemente und Standards.
-
Physikalische
Eigenschaften: die wesentlichen Objekte, Materialien
und das ‚Setting‘.
-
Aktions-
Prozess: die psychomotorischen Verhaltensweisen, die erforderlich
sind in Bezug auf den Einsatz der Formen und Eigenschaften.
-
Ergebnis:
die erkennbaren Ergebnisse oder Endprodukte der Aktivität.
-
Die
realistischen und symbolischen Dimensionen der sozialen, kulturellen und
persönlichen Bedeutungen der jeweiligen Aktivität:
sowohl in bezug auf die gesamte Aktivität oder Betätigung als auch auf Teile
derselben (Struktur, Eigenschaften, Aktion und Ergebnis).“
CSIKSZENTMIHALYI und ROCHBERG - HALTON (1981, 11) bringen im
Zusammenhang mit dem Begriff der Betätigung die Bezeichnung ‚Homo Faber‘ ins
Spiel. Der Mensch ist hierbei sowohl Schöpfer als auch Nutzer von Objekten und
steht in einer Beziehung und Interaktion zu dem von ihm Geschaffenen.
Die Bedeutung, die eine Betätigung für einen Menschen hat,
wird nach FIDLER (1981, in FIDLER 1999, 5) durch verschiedene Faktoren
bestimmt:
-
die Wertschätzung durch die
Gesellschaft
-
die Kongruenz zwischen der ausführenden
Person und ihrer Aktivität
-
das integrative Potential der Aktivität
sowie
-
die Überprüfbarkeit des Ergebnisses.
Hierbei ist es für
die intrinsische Motivation, die Zufriedenheit und das Ergebnis von Bedeutung,
inwieweit eine Aktivität zu einem Menschen passt, ob die Hauptmerkmale einer Aktivität übereinstimmen mit den
biopsychischen Charakteristika der ausführenden Person.
Die Autorin wird in dieser Arbeit die Begriffe ‚Betätigung‘
und ‚Aktivität‘ zunächst als Synonyme betrachten, da eine Abgrenzung der
Begriffe voneinander für die
vorliegende Fragestellung wegen der damit verbundenen zusätzlichen Komplexität als nicht sinnvoll angesehen wird. Die vier
Kennzeichen von Betätigung nach CHRISTIANSEN (1995,7) werden in dieser Arbeit
zur Auswertung herangezogen
1.2.1 Haben Menschen mit schweren
Mehrfachbehinderungen beobachtbare Betätigungen (‚occupations‘)?
Dies ist die zentrale Fragestellung dieser Arbeit. Können
das Verhalten, die Reaktionen und Aktivitäten, die bei Herrn B. und Herrn A. im
Verlauf der Studie beobachtet werden als Betätigungen nach den oben genannten
Kriterien bezeichnet werden? Diese Hauptfrage wirft aufgrund dieser Kriterien
weitere Fragen auf:
-
Ist das beobachtete Geschehen
absichtsvoll und zielgerichtet oder eher zufällig?
-
Wie sehen die Situationen und
Zusammenhänge, das Umfeld, die Umwelt aus, die das Geschehen bedingen?
-
Wie wird Herr A., der sich selbst verbal
äußern kann, seine Aktivitäten und Handlungen bezeichnen?
-
Wie werden die Mitarbeiter oder
Mitbewohner und Kollegen diese benennen?
-
Welche Begriffe benutzt die Autorin
selbst, um das Gesehene und Erlebte zu beschreiben und zu kennzeichnen?
-
Welches sind die Ergebnisse der
jeweiligen Betätigungen?
-
Welche Bedeutung hat das Geschehen für
die beiden Bewohner?
All diese Fragen müssen in Bezug auf die Beobachtungen
gestellt werden, um zu einer Antwort zu gelangen, ob es sich bei dem, was
beobachtbar ist, um ‚Betätigungen‘ bzw. ‚Aktivitäten‘ handelt, oder ob
möglicherweise andere Begriffe verwendet werden, wie z.B. ‚Reaktion‘.
Hierbei handelt es sich um einen
Grundbegriff aus der Lern- oder Verhaltenstheorie. BAUMGART und BÜCHELER (1998) definieren im Lexikon zur
Erwachsenenbildung Reaktion als eine „einfache Verhaltensweise, vor allem im
körperlichen oder emotionalen Bereich, die unmittelbar auf das Auftreten eines
äußeren oder inneren Reizes erfolgt.“ Aufgrund der eigenen Erfahrung der
Autorin in der Arbeit mit Menschen, die schwere Mehrfachbehinderungen
haben, kann eine Reaktion ein
unspezifisches Verhalten sein, ohne ein auf den ersten Blick erkennbares Ziel,
für einen Beobachter wahrnehmbar nur an einer Veränderung des bisherigen
Zustandes. Eine Reaktion kann ein Lächeln, ein Innehalten, ein Laut sein, ein
Zusammenzucken, ein Blinzeln, jedenfalls ein Zeichen, dass etwas anders ist,
als es vorher war.
1.2.2 Relevante Aspekte des Kanadischen Modells der
Occupational Performance
Nach dem kanadischen Modell der Occupational Performance
(vergl. Abb. 1) bewegt sich der Mensch als Person in einem Tagesablauf, der
geprägt ist durch Betätigungen, die man durch drei Kategorien benennen kann:
Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit. Jeder dieser drei Kategorien
werden verschiedene Betätigungen zugeordnet (vergl. LAW, M.; POLATAJKO, H.; CARSWELL, A.; Mc COLL, M. A.;
POLLOCK, N. ; BAPTISTE, S.; 1999, 160):
-
Zur Selbstversorgung gehören die Sorge
für die eigene Person, Mobilität und Regelung der persönlichen Angelegenheiten.
-
Zur Produktivität gehören Arbeit,
Haushaltsarbeit, Spiel (bei Kindern) sowie Schule und Studium.
-
Zur Freizeit gehören ruhige und aktive
Erholung sowie soziale Aktivitäten.
In der Einrichtung, in der Herr A. und Herr B. leben, wird
versucht, das ‚Zwei – Milieu – Konzept‘ umzusetzen. Dies besagt, dass den
schwer behinderten BewohnerInnen eine Tagesstruktur in mindestens zwei
verschiedenen Milieus angeboten werden soll. Das eine Milieu oder auch Umfeld
ist der Wohnbereich, in dem überwiegend die Betätigungen
Selbstversorgung aber auch Freizeit stattfinden, das andere Milieu ist der
Bereich der Produktivität, der je nach Alter als Schule, Arbeit oder
tagesstrukturierende Maßnahme im Seniorenbereich gestaltet wird. In wieweit
das, was in diesen ‚Milieus‘ an Betätigungen oder Aktivitäten stattfindet, von
den Beteiligten dieser Studie auch tatsächlich diesen Kategorien zugeordnet
wird, soll im Rahmen dieser Studie beantwortet werden.
Abbildung 1: Das Kanadische Modell der Occupational
Performance (CAOT 1997).
Neben einer Kategorisierung von Betätigungen bietet das
Kanadische Modell noch zwei weitere Aspekte, die Begriffe ‚Spiritualität‘ und
‚Umwelt‘. Die charakteristischen Züge eines Menschen äußern sich in seinen
affektiven, kognitiven und körperlichen Komponenten, die sich um einen Kern
formieren, der beim Kanadischen Modell als ‚Spiritualität‘ bezeichnet wird.
Diese ‚Spiritualität‘ bezeichnet das „ganz persönliche Innere, die Anteile
einer Person, die sie motivieren, sich den Aufgaben und dem Tätigsein im
täglichen Leben zu stellen.“ (LAW et. al., 1999, 158). So wie die
‚Spiritualität‘ den inneren Beweggrund einer Betätigung beschreibt, so
beschreibt die ‚Umwelt‘ die äußeren Bedingungen, in denen eine Betätigung
stattfindet. Nach dem kanadischen Modell werden vier verschiedene Elemente
beschrieben, die die ‚Umwelt‘ bilden (vergl. LAW et al. 1999, S. 158):
-
die kulturelle Umwelt mit Traditionen,
Werten und Routinen
-
die institutionelle Umwelt mit
ökonomischen, rechtlichen und politischen Dienststellen
-
die physische Umwelt mit natürlichen
und geschaffenen Gebilden
-
die soziale Umwelt, zu der soziale
Beziehungen, Organisationsstrukturen und Einstellungen gehören
Ob und inwieweit diese beiden Begriffe ‚Spiritualität‘ und
‚Umwelt‘ für das Betätigungsverhalten von Menschen mit schweren Behinderungen
hilfreich sind, soll im Rahmen dieser Studie ebenfalls herausgearbeitet werden.
1.2.3 Relevante Aspekte des Models of Human
Occupation (MOHO) von Gary Kielhofner
Das in den späten 70er Jahren entwickelte ‚Model of Human
Occupation‘ (im folgenden MOHO genannt) basiert auf einer dynamischen,
systemorientierten ganzheitlichen Sicht des Menschen. Für die vorliegende
Arbeit von Bedeutung ist die Theorie der Betätigung und deren Bedeutung für das
menschliche Leben (vergl. Abb.2).
Abbildung 2:
Grundschema des ‘Model of Human Occupation’, MOHO
Das Modell basiert auf einigen der in Abschnitt 1.2 bereits
erwähnten Definitionen des Begriffes Betätigung. Nach KIELHOFNER, MENTRUP;
NIEHAUS (1999, 51) ist Betätigung die „zentrale Kraft für Gesundheit,
Wohlbefinden, Entwicklung und Veränderung,“ da die Betätigung den Menschen zu
den Personen formt, die sie in Zukunft sein werden. Ebenso wie im Kanadischen
Modell wird das Betätigungsverhalten als „Ergebnis der Interaktion von
persönlichen und umweltbedingten Faktoren verstanden.“ Anders als im
Kanadischen Modell wird bei MOHO das aktive Wesen des Menschen mit den
Begriffen: ‚Volition‘, ‘Habituation‘
und ‚Performanz' Geist- Gehirn- Körper-
Einheit‘ erklärt.
-
Unter dem Begriff ‚Volition‘ wird hierbei der Motivationsaspekt verstanden, das
Bedürfnis des Menschen zu handeln. Hierzu gehören das Selbstbild des Menschen,
seine Werte und seine Interessen.
-
Zur ‚Habituation‘ gehören seine Gewohnheiten und Rollen.
-
Zur ‚Performanz Geist- Gehirn- Körper- Einheit‘, das heißt zur
Fähigkeit, Betätigungen auszuführen, gehören die motorischen, neurologischen,
perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten des Menschen.
Der Begriff der ‚Volition‘
soll im Rahmen dieser Arbeit etwas näher beleuchtet werden, da eine der
Ausgangsfragen lautete, was angemessene Freizeitaktivitäten für Menschen mit
schweren Mehrfachbehinderungen sein können. Hierbei stellt sich primär die
Frage nach den Interessen dieses Personenkreises und dem Wert, den die
Betätigung für die jeweilige Person hat. Der Begriff ‚Volition‘ lässt sich nach Ansicht der Autorin am ehesten mit dem
Begriff ‚Spiritualität‘ des
kanadischen Modells in Verbindung bringen, da beide Begriffe den
Motivationsaspekt der Person bezeichnen.
„‚Volition‘ wird“ nach
de las HERAS, GEIST und KIELHOFNER (nach einer deutschen Übersetzung 1998 von
Barbara DEHNHADRT) „definiert als System von Veranlagung und Selbsterkenntnis,
das Personen dazu bringt und es ihnen ermöglicht, etwas zu erwarten,
auszuwählen, Erfahrungen zu machen und Verhalten zu interpretieren.“ ‚Volition‘ äußert sich in beobachtbaren
Prozessen, wie z.B.: Auswählen von Tätigkeiten, Äußerungen von Vorfreude oder
Abneigung, Stolz auf eine Leistung und Ähnliches. Der Fragebogen zur ‚Volition‘ (vergl. Anlage 10) und die
Interessencheckliste nach MATSUTSUYU ( 1967) et. al. (1976) (vergl. Anlage 9)
helfen bei der Operationalisierung des Konzeptes der ‚Volition‘.
Der Aspekt der Umwelt,
der den Rahmen für die Beobachtungen zur ‚Volition‘
darstellt, und der auch beim Kanadischen Modell von wesentlicher Bedeutung ist,
wird bearbeitet in den Kapiteln 2.3 ‘Das Lebensumfeld der untersuchten
Personen‘ sowie bei den Ergebnissen der Untersuchung im 4. Kapitel. MOHO bildet
hierbei ähnliche Kategorien wie das Kanadische Modell: Umwelt des täglichen
Lebens, Arbeitsumwelt und Freizeitumwelt.
Im Rahmen dieser Studie erheben sich die Fragen, ob sich diese Kategorien auf die
beiden Klienten der Fallstudie übertragen lassen, ob die Umwelt des täglichen
Lebens gleichzusetzen ist mit den
beiden Wohnheimen der Klienten, wo sich die Freizeitumwelt in der Einrichtung
abbildet, die konzeptionell von einem Zwei- Milieu – Konzept ausgeht, in dem
Freizeit zu einem Unterpunkt der Umwelt des täglichen Lebens wird. Ist der
Bereich der Arbeitsumwelt, der sich im Fall des Herrn A. eher auf die
Seniorentagesstätte und im Bereich des Herrn B. auf die Werktherapie bezieht
nur ein äußerlicher, d.h. rein räumlich bezogener Gestaltungsaspekte von Umwelt
oder gibt es auch eine inhaltliche Unterscheidbarkeit und
Abgrenzungsmöglichkeit bedingt durch
verschiedene Arten von Betätigungen?
Die Beobachtungen, die im Rahmen dieser Studie erfolgten,
wurden nicht anhand des Fragebogens zur ‚Volition‘
vorgenommen, sondern als freie Beobachtungen. Dennoch können die Indikatoren
(HERAS, 1998, 13 –20), die in diesem Fragebogen aufgeführt werden (vergl.
Anlage 10) für die Kategorienbildung in der Auswertung hinzugezogen werden.
Es ist zu vermuten, dass sich durch die Beschreibung des
Tagesablaufes Hinweise auf Rollen und Gewohnheiten finden, die die
‚Habituation‘ der beiden Klienten beschreiben könnten. In der Auswertung der
Studie in Kapitel 4 soll auf diesen Aspekt dann Bezug genommen werden.
Einige Aspekte zur ‚Performanz‘ finden sich, nicht
expliziert unter diesem Stichwort erwähnt, jeweils unter den Punkten 2.4.1 und
2.4.2 nach einer eigenen Systematik der
Autorin. Die Dokumentationen zu den ADL- Fähigkeiten finden sich in den Anlagen
1 (für Herrn A.) und 2 (für Herrn B.). Im Rahmen dieser Studie erfolgt keine
Befunderhebung (Assessment) anhand der Instrumente von MOHO oder dem zum
kanadischen Modell gehörenden ‚Canadian Occupation Performance Measure‘ (COPM),
sondern lediglich im Rahmen der Auswertung eine Bezugnahme auf das theoretische
Modell.
2. Methoden
Im ersten Abschnitt (2.1) werden die theoretischen
Grundlagen der von der Autorin verwendeten Forschungsmethode in Bezug auf den
qualitativen Forschungsansatz, die ‚Einzelfallstudie‘ (Case- study) sowie die in
dieser Arbeit verwendeten Methoden erläutert. Einen Schwerpunkt dieser
Erörterung bildet dabei die Frage, warum in dieser Situation
‚Einzelfallstudien‘ erstellt wurden.
Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (2.2) wird die konkrete
Vorgehensweise der Autorin beschrieben sowohl in Bezug auf die ursprüngliche
Planung als auch auf die Durchführung. Die im Verlauf der Forschungsarbeit aufgetretenen Schwierigkeiten werden hier
ebenso behandelt, wie die notwendigen Veränderungen des ursprünglichen
Konzeptes.
Im dritten Abschnitt (2.3) dieses Kapitels wird das Umfeld,
die Rahmenbedingungen beschrieben, in denen die beiden Personen leben, die in
dieser Studie beobachtet wurden. Dies soll dazu verhelfen, den Aspekt ‚Umwelt‘
besser zu verstehen.
Im letzten Abschnitt (2.4) werden die beiden untersuchten
Personen genauer vorgestellt, ihre Persönlichkeit, ihre Biographie sowie ihr
Krankheitsbild und die daraus resultierenden Behinderungen beschrieben. Dies
soll dazu verhelfen, die den Betätigungen zugrundeliegenden Fähigkeiten und
Einschränkungen transparenter zu machen.
2.1 Theoretische Grundlagen zur methodischen
Vorgehensweise dieser Arbeit
In seiner Enzyklika
Laborem exercens stellt PAPST JOHANNES PAUL II (1981) (zitiert nach HOWARD
und HOWARD, 1997) fest, dass alle menschlichen Aktivitäten, egal ob
körperlicher oder geistiger Art, Arbeit sind. Die besondere Würde des Menschen
leite sich von der Arbeit ab. Menschen als Abbilder Gottes, des Schöpfers haben
den Auftrag die Erde zu bevölkern und sie sich untertan zu machen. (Gen. 1,28).
Bei der Ausführung dieses Auftrags sei der Mensch ein Abglanz des Wirkens des
Schöpfers unseres Universums.
Der Autorin erscheint es bedenklich, den Auftrag und die
Würde des Menschen allein von seiner Fähigkeit zur Aktivität abzuleiten.
Menschen mit sehr schweren Mehrfachbehinderungen haben es schwer, ‚Arbeit‘ in
diesem Sinne zu leisten, oder auch nur einfache Aktivitäten selbst auszuführen.
Dennoch sind sie da und wirken durch ihre Präsenz auf unsere Gesellschaft ein.
Eine Beschreibung ihres Tuns, ihrer Aktivitäten, ihrer Betätigungen mit den
bekannten ergotherapeutischen Verfahren birgt die Gefahr, eine
reduktionistische Sichtweise zu entwickeln, bei der die Handlungsfähigkeit des
Menschen in den Vordergrund der Beurteilung tritt. Die Begegnung mit sehr schwer behinderten Menschen macht die
Spannung zwischen ‚Sein‘ und ‚Handeln‘, ‚Aktivität‘ und ‚Präsenz‘, ‘Handelndem‘
und ‚Behandeltem‘ deutlich. Zwar soll
in dieser Studie das ‚Betätigungsverhalten‘ von Menschen mit schweren
Mehrfachbehinderungen beobachtet werden, wobei jedoch die Frage dahinter steht,
ob das, was im Alltag beobachtet werden kann, sich auch als Betätigung
bezeichnen lässt, aber ob andere Begriffe angebrachter sind. Diese
Fragestellung erfordert einen offenen Ansatz, bei dem auch Beobachtungen
festgehalten werden können, die nicht a priori als ‚Betätigungen‘ definiert
werden können. Somit kann die Frage nur im Rahmen einer explorativen,
qualitativen Studie bearbeitet werden.
Hinzu kommt, dass die in den klassischen Assessmentverfahren
geforderte Objektivität des Therapeuten nach Ansicht VAN AMBURGS (1997) eine
Perspektive ohne Engagement ist, die die menschliche Beziehung unpersönlich
macht. Objektivität arbeite auf der stillschweigend ausgeübten,
reduktionistischen Annahme, dass alle Wahrheit auf strukturierte Weise
dargestellt und verifiziert werden könne. Es sei jedoch wichtig, die gemachten
Erfahrungen mittels Dialog zu interpretieren, um so die Bedeutung der Wahrheit zu
erfahren. Bedeutungsvolle Erfahrungen seien hermeneutischer Natur und
benötigten engagierte, anteil-nehmende Beziehungen, um sich auch spirituell zu
manifestieren (vergl. VAN AMBURG, 1997).
Eine Voraussetzung für die Beschreibung des
Betätigungsverhaltens von Menschen mit schweren Behinderungen ist nach Ansicht
der Autorin die Bereitschaft des Forschers, seinen objektiven Standpunkt zu
verlassen und sich selbst als Subjekt in den Forschungskontext zu begeben. Ein
Teil des Feldes, in dem die Beobachtungen stattfinden, ist der intime Bereich
des Bewohners, sein privates Wohnumfeld, seine körperliche Versorgung, seine
Beziehungen. Ein Eindringen in diesen Bereich zu Forschungszwecken ist nach
Ansicht der Autorin ohne eine Verletzung der Menschenwürde nur dann möglich,
wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen der beobachteten Person, den beteiligten
MitarbeiterInnen und der Forscherin gegeben ist. Die Haltung der Forscherin
sollte geprägt sein durch Zurückhaltung, Respekt und Empathie. Eine extreme
Art, objektiven Forschungsmethoden an Menschen mit schweren Behinderungen
anzuwenden, fanden zur Zeit des Nationalsozialismus statt, wo behinderte und
nicht behinderte Menschen als Objekte wissenschaftlicher Forschung missbraucht
wurden.
Das Anliegen der Autorin ist nicht primär das Interesse an
der ‚Funktionsweise‘ von Menschen mit schweren Behinderungen, sondern die
Fragen, was die Bedürfnisse von Menschen mit schweren Behinderungen sind,
welche Aktivitäten sie gerne machen? Die therapeutischen Aktivitäten und die
Gestaltung der Umwelt können dann auf diesen Erkenntnissen aufbauen, um so
einen kleinen Beitrag für diesen Personenkreis zu einem sinnerfüllten Leben in
Würde zu leisten.
Henri J.M. NOUWEN, Priester, Theologe und Schriftsteller
(1998) beschreibt in seinem Buch ‚Adam und ich, - eine ungewöhnliche
Freundschaft‘ seine Beziehung zu einem
schwerstbehinderten Mann. Er nutzt dafür die Form der Erzählung, er schildert
Begebenheiten und beschreibt seine Gedanken und Empfindungen. Er bringt sich
als Person in einer Beziehung zu diesem Menschen ein. Adam, die Hauptperson
dieser Erzählung wird nicht aufgrund
seiner ‚Heldentaten‘ oder ‚Fähigkeiten‘ für den Leser zu einem Menschen, dessen
Einmaligkeit sichtbar aufstrahlt, sondern durch das, was er allein durch die
Art seiner Präsenz bei anderen Menschen auslöst. NOUWEN gelingt es mit diesem
Buch, das in Worte zu fassen, was den Kern der menschlichen Person ausmacht,
ihre ‚Spiritualität‘. Das Erzählen von
Geschichten aus dem Alltag ist hierbei ein wichtiges Mittel, um auch Erlebnisse,
die nicht messbar sind, begreifbar und für einen Außenstehenden nachvollziehbar
zu machen. Aus diesem Grund greift die Autorin auch auf dieses Stilmittel
zurück, wenn es darum geht, Erlebnisse zu beschreiben, die den Bereich des
Objektiven verlassen und subjektive Erlebnisse im Rahmen der Beobachtungen
sind.
2.
1.1 Kennzeichen qualitativer Sozialforschung
Die Schlagworte: Kommunikation,
Verstehen, Subjekt, Lebenswelt kennzeichnen die Vorgehensweise der qualitativen
Sozialforschung (vergl. LAMNEK, 1995, 21) und sind somit treffend für das
Vorhaben der Autorin.
Die zentralen Prinzipien der qualitativen Sozialforschung
sind nach LAMNEK (1995, 21 –30):
1. Die
Offenheit als Grundhaltung gegenüber den Untersuchungspersonen,
gegenüber der Untersuchungssituation und den einzelnen anzuwendenden Methoden.
Da bei diesem Forschungsansatz auf eine Hypothesenbildung
ex ante verzichtet wird, liegt das Schwergewicht der Forschung auf der
Exploration.
Zunächst soll in dieser Arbeit das Betätigungsverhalten von
Menschen mit schweren Behinderungen erfasst und beschrieben werden, bevor
Hypothesen darüber formuliert werden können, welche Angebote sich für diesen
Personenkreis eignen.
2. Die
Kommunikation und Interaktion zwischen der
Forscherin und den zu Erforschenden ist konstitutiver Bestandteil des
Forschungsprozesses.
Gespräche mit den beiden Klienten gehören ebenso zum
Prozess, wie der Austausch mit den MitarbeiterInnen auch während der
Beobachtungsphasen. Die Autorin sitzt nicht unbemerkt hinter einer Glasscheibe
als reine Beobachterin, sondern wird durch ihre Präsenz zur Mitakteurin und
Beteiligten am jeweiligen Prozess. Es ist nicht möglich, so zu tun, als wäre
man nicht da. Die BewohnerInnen stellen Fragen, treten in Kommunikation oder
reagieren auf die Präsenz der Autorin.
Aus dieser Kommunikation und Interaktion können sich wertvolle Hinweise
ergeben für die Beantwortung der Fragen, die in dieser Arbeit gestellt
werden. Nicht zuletzt erfährt die
Forscherin eine eigene emotionale Beteiligung und kann ihre eigenen
Erfahrungen, Beurteilungen und Gefühle mit in die Auswertung der Beobachtung
einbringen. Durch die Beteiligung von Forscher, Klient, betreuender Mitarbeiter
sowie anderer Bewohner ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf den
Forschungsgegenstand. Diese Perspektiventriangulation führt dazu, dass eine zu
erstellende ‚Alltagstheorie‘ (vergl. DEWE u.a. 1984) das Ergebnis der Diskussion,
des Aushandelns unterschiedlicher Sichtweisen sein muss.
3. Forschung und Gegenstand der Forschung haben einen
Prozesscharakter. Nicht nur die Personen verändern sich
durch die Kommunikation und Interaktion, sondern durch jede Handlung, jede Betätigung,
wird durch die soziale Wirklichkeit der Handelnden reproduziert, modifiziert
und dadurch neu konstitutiert. Die Alltagswirklichkeit verändert sich durch
diese Prozesse. Die qualitative Forschung bietet einen Ansatz, diese
Veränderungsprozesse zu dokumentieren, analytisch zu rekonstruieren und zu
erklären.
Eine Bitte der Forscherin an die Mitarbeiterin, eine
bestimmte Tätigkeit kurz zu erläutern, kann z.B. bereits dazu führen, dass ein
Mitarbeiter durch die Reflexion seiner Tätigkeit zu einer Modifikation seines
Verhaltens gegenüber dem behinderten Bewohner kommt, ohne dass dies von der
Forscherin bewusst intendiert war.
4. Die Reflexivität von Gegenstand und Analyse
geht davon aus, dass jedem Gegenstand, jedem menschlichen Verhalten eine
kontextgebundene Bedeutung unterliegt, und dass jede Analyse eines Verhaltens
auch eine Zuweisung von Bedeutung beinhaltet. Dies bedeutet, dass eine Handlung
einen Sinn konstituiert, d.h. für den Handelnden von Bedeutung ist. Eine
Analyse der Handlung führt zu einem Sinnverstehen, wodurch sich der Kreis im
Sinne eines hermeneutischen Zirkels
schließt (vergl. GADAMER, 1960; zitiert nach LAMNEK, 1995, 26).
Eines der Kennzeichen menschlicher Betätigung ist die
Bedeutung, der Wert, den die Handlung für einen Menschen hat. In dieser Arbeit,
soll dieser Aspekt besonders berücksichtigt werden, da die Frage nach dem Sinn
der Betätigungen von Menschen mit schweren Behinderungen im Alltag immer wieder
gestellt wird.
5. Das Prinzip der Explikation
ist eine Forderung an die Forscherin, die einzelnen Schritte und Regeln der
Untersuchungen so weit als möglich offen zu legen. Der wesentliche Sinn liegt
darin, die Vorgehensweise für andere Menschen nachvollziehbar zu machen.
Bei dieser Arbeit befinden sich sämtliche Beobachtungsprotokolle
und Befragungsprotokolle im Anhang. Im nächsten Absatz beschreibt die Autorin
ihre eigene Vorgehensweise sowohl in bezug auf die Planung als auch auf die
Durchführung.
6. Die Flexibilität ist ein besonders
wichtiges Kriterium quantitativer Sozialforschung und bedeutet, dass die
Forscherin bei der Exploration eine flexible Vorgehensweise zulässt, die sich
an den Erfordernissen der Realität orientiert.
Im Fall dieser Arbeit hatte sich die Forscherin vorgestellt,
dass direkt im Anschluss an verschiedene Aktivitäten etwas detailliertere
Interviews mit den MitarbeiterInnen möglich seinen. Dies war jedoch aufgrund
des auf den Gruppen herrschenden Zeitdrucks eine Illusion. So war es
realistischer, die Fragen teilweise im Verlauf der einzelnen Betätigungen zu
stellen, bzw. den MitarbeiterInnen einen Befragungsbogen mit Leitfragen
auszuhändigen, den sie in Pausen- und Zwischenzeiten ausfüllen konnten, wo es
arbeitsmässig möglich war. Gespräche konnten nur dann stattfinden, wenn es den
reibungslosen Ablauf des stationären Betriebe nicht störte und nicht zu den
Zeiten, wo es idealerweise angebracht gewesen wäre. Somit war die Dokumentation
der aktuellen Situation eher das Aufgabenfeld der Forscherin, bei den
Beschreibungen der Mitarbei-terInnen handelt es sich dabei in der Regel um
einen Rückblick nach einem mehr oder weniger langen Zeitraum (15 Minuten bis zu
mehreren Tagen in zwei Fällen).
2.1.2
Die Einzelfallstudie
Bei der Einzelfallstudie handelt es sich nach LAMNIK (1995,
Band 2, 5) um einen ‚approach‘, einen
Forschungsansatz und keine ausgearbeitete Methodik. Im Rahmen einer
Einzelfallstudie können verschiedene methodische Vorgehensweisen zum Zuge
kommen. Wesentlich ist bei diesem Ansatz, die Untersuchungs-Objekte nicht auf
wenige Variablen zu reduzieren, sondern ein möglichst ganzheitliches,
realistisches Bild der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. LAMNEK (1995, Band 2,
6) fordert, dass „möglichst alle für
das Untersuchungsobjekt relevanten Dimensionen in die Analyse einzubeziehen“
sind.
In dieser explorativen Studie werden zwei ‚Fälle‘ jeweils
einen Tag lang beobachtet. Es handelt sich um Menschen aus der Gruppe von
Personen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die sich beide hinsichtlich ihres
‚Betätigungs- Potentials‘ sehr unterscheiden. Die Autorin kennt beide Personen
aus ihrer bisherigen Arbeit und besitzt einige Vorkenntnisse über die
Möglichkeiten, die die beiden Bewohner hinsichtlich ihrer Tagesgestaltung haben.
Die Autorin begegnet den beiden Bewohnern in der Regel im Bereich der
Freizeitgestaltung und es stellte sich die Frage, inwieweit sich das
Betätigungsverhalten der beiden Bewohner in der Freizeit unterscheidet von dem
Betätigungsverhalten im Wohn- und Produktionsbereich. Die dahinter stehende
Aufgabe, klientenzentrierte Angebote zu entwickeln, bestätigt den Ansatz,
zunächst einmal bei wenigen, aber sehr unterschiedlichen Klienten, eine
umfassende Analyse ihrer Betätigungen vorzunehmen, um daraus zu einem späteren
Zeitpunkt Ansätze für mögliche Betätigungsangebote generieren zu können.
In diesen beiden Einzelfallstudien sollen zum einen das
Betätigungsverhalten der beiden Personen beobachtet werden, aber auch das
soziale und materielle Umfeld, welches auf dieses Betätigungsverhalten
einwirkt. Gerade bei Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen muss davon
ausgegangen werden, dass die Rahmenbedingungen ihres Alltags sich auf ihre
Betätigungsmöglichkeiten in erheblichem Umfang auswirken. Wie das konkret im
Alltag aussieht, sollen die Beobachtungen zeigen. Es soll nach FUCHS et al.
(1978, 181, zitiert nach LAMNEK, 1995, Band 2, 7) ein „genauerer Einblick in
das Zusammenwirken einer Vielzahl von Faktoren“ ermöglicht werden.
2.1.3
Methoden, die in diesen Einzelfall-Studien angewandt wurden
-
Teilnehmende
Beobachtung
Das wichtigste Instrument zur Datenerhebung stellt ein
Beobachtungsbogen dar (vergl. Anlage 3), der bereits einige Strukturierungshilfen
enthält. Neben einer laufenden Numerierung gibt es eine Spalte für die Uhrzeit,
für die Bezeichnung der jeweils stattfinden Aktivität, für weitere Beteiligte,
die Umgebung sowie Anmerkungen. Der Hauptfokus der jeweiligen Protokolle liegt
aber auf der Dokumentation der stattfindenden Gespräche sowie der von der
Autorin gemachten Beobachtungen.
-
Befragungsbogen
mit Leitfragen
Die beteiligten MitarbeiterInnen wurden jeweils im Anschluss
an eine längere Handlungssequenz, in der sie mit dem Bewohner tätig waren,
gebeten, ihre Beobachtungen und Gedanken in einem Fragebogen festzuhalten
(vergl. Anlage 4). Leitfragen sollten bei der Formulierung der Antworten
helfen. Ursprünglich war geplant, diese Fragen direkt im Anschluss in Form
eines Interviews zu stellen, was sich aber aufgrund von Zeitdruck der
MitarbeiterInnen als nicht realisierbar herausstellte. Der Fragebogen gab den
MitarbeiterInnen die Möglichkeit, die Fragen zu einem Zeitpunkt zu beantworten,
in dem sie selbst dafür die notwendige Ruhe hatten. Einer der Bewohner wurde in
einer Situation ebenfalls mit Hilfe dieses Fragebogens befragt. Es zeigte sich
aber im Verlauf des Gesprächs, dass es besser war, ein freies Interview mit ihm
zu führen.
-
Freies Interview
Sowohl die MitarbeiterInnen als auch einer der Bewohner,
Herr A. wurden von der Autorin in Pausenzeiten und wenn es sich ergab befragt.
Diese Interviews wurden nur stichwortartig festgehalten und fließen in erster
Linie in die Beobachtungsbögen, sowie bei Einrichtungskonzepten und den
Krankheitsgeschichten der beiden Klienten mit ein.
Ein schriftlich fixiertes Interview wurde mit den
ArbeitskollegInnen von Herrn B. in der Werktherapie geführt (vergl. Anlage 5).
Dieses Interview entstand spontan aus der Situation heraus und wurde von der
Forscherin protokolliert.
-
Auswertung
von Krankenakten
Für die Beschreibung der beiden ‚Fälle‘ sowie zur
Darstellung der Konzeptionen der verschiedenen Einrichtungen wurde vielfältiges
Material der vorhandenen Krankenakten ausgewertet. Hierin fanden sich die
Diagnosen, Krankengeschichten, die Entwicklungsberichte, Zeugnisse der Schule,
Pflegedokumentationen, ausführliche Befunde sowie Berichte aus dem
Arbeitsbereich. Die
Entwicklungsberichte enthielten auch
konzeptionelle Grundgedanken der jeweiligen Einrichtungen. Aus Gründen
des Datenschutzes befinden sich nur Abschriften einiger Auszüge der
Originaldokumente in dieser Arbeit.
-
Kategorisierung
der Ergebnisse
Im Verlauf der Auswertung der Beobachtungsbögen sowie der
Befragungsbögen wurde ein Bogen entwickelt, der eine Zuordnung der Betätigungen
zu unterschiedlichen Kategorien ermöglicht (vergl. Anlagen 6).
2.2 Erfahrungen mit der methodischen
Vorgehensweise im Rahmen dieser Arbeit
Für die Abfassung einer Studienarbeit, die veröffentlicht
werden soll, und sei es auch nur im Bereich der Fachhochschule mussten mehrere
Genehmigungen eingeholt werden. Für die Veröffentlichung konzeptioneller
Gedanken mussten die jeweiligen EinrichtungsleiterInnen um ihre Zustimmung
gebeten werden. Für die Beobachtungen der beiden behinderten Menschen wurden
mit allen Beteiligten Vorgespräche geführt, Informationen über die
Studienarbeit, sowie die Art der Beobachtungsweise gegeben und das
Einverständnis der betroffenen Bewohner und MitarbeiterInnen eingeholt. Herr
A., der seine Belange selbst vertreten kann, gab eigenständig sein
Einverständnis dazu und hat darum gebeten, Einsicht in die
Beobachtungsprotokolle nehmen zu dürfen, was ihm von der Autorin zugesagt
wurde. Bei Herrn B. wurde das Einverständnis des Vaters als rechtlichem
Vertreter von dem Gruppenleiter der Wohngruppe eingeholt.
Im Rahmen der Vorüberlegungen zu dieser Arbeit erstellte die
Autorin zunächst eine Feldskizze um die
Bereiche zu verdeutlichen, in denen sich die Arbeit bewegen würde.
Abb. NN1 (feld II) bezeichnet das Lebensumfeld von Herrn A.,
Haus A. mit der Gruppe S., in dem er wohnt, sowie die Seniorentagesstätte in
Haus St. In den Kapiteln 2.3 und 2.4 wird dieser Bereich näher beschrieben.
Abb. NN2 bezeichnet das Lebensumfeld von Herrn B. Er lebt in
Haus B., auf der Gruppe I. und arbeitet in der Werktherapie in Haus Wt. Auch
dieses Feld wird unter den Punkten 2.3 und 2.4 näher beschrieben.
Die MitarbeiterInnen sowohl von den Stationen als auch in
der Werktherapie sowie in der Seniorentagesstätte (aus den Feldern II und III)
zeigten ein großes Interesse an den Ergebnissen der Arbeit.
Bei den Vorgesprächen wurde deutlich, dass es einigen
MitarbeiterInnen sehr daran gelegen war, dass ihre Arbeit nicht bewertet oder
beurteilt werden würde. Die personelle Situation auf den Gruppen war zum
Zeitpunkt der Beobachtungen recht knapp, in Haus B. musste ein Mitarbeiter von
einer anderen Gruppe aushilfsweise Herrn B. betreuen. Verständlicherweise war
dieser Mitarbeiter zunächst etwas verunsichert darüber, dass eine ihm fremde
Person mit im Raum war und all sein Tun protokollierte. Für die Autorin war es
eine gute Erfahrung, dass alle MitarbeiterInnen zu einer Zusammenarbeit bereit
waren, nachdem ihnen Sinn und Zweck der Arbeit erklärt worden war. Die Fragestellung, wie Betätigungen für
Menschen mit schweren Behinderungen aussehen, ist besonders für die Mitarbeiter
von Herrn B. von großer Bedeutung, da sich viele MitarbeiterInnen die Frage
stellen, welche Betätigungen für Herrn B. sinnvoll und wünschenswert sind, ja
was man ihm überhaupt an Betätigungen anbieten soll.
Die Beobachtungen wurden im Fall des Herrn A. auf zwei Tage
verteilt, an einem Tag wurden die Beobachtungen in der Wohngruppe durchgeführt,
eine Woche später die Beobachtungen in der Seniorentagesstätte, da es sonst für
die Forscherin zu anstrengend gewesen wäre von morgens 7. 00 Uhr bis abends
21.00 Uhr Herrn A. zu beobachten.
Da Herr B. eine längere Mittagspause macht und der Besuch
der Werktherapie nur am Vormittag stattfindet, war es bei ihm möglich, alle
Beobachtungen an demselben Tag durchzuführen.
Einige der Gespräche, die Herr A. geführt hat, waren
schwierig zu protokollieren, da es sich häufig um umfangreiche Konversationen
mit Mitbewohnern handelte. Dort wo ein wörtliches Mitschreiben nicht mehr
möglich war, wurde der Inhalt im Protokoll als indirekte Rede sinngemäß
verkürzt dokumentiert. Die Autorin hat Herrn A. noch vor Abschluss der Arbeit
die ihn betreffenden Protokolle vorgelesen und ihn um Korrektur oder
Bestätigung gebeten.
2.3 Das Lebensumfeld der untersuchten Personen
Herr A. (73 Jahre) und Herr B. (28 Jahre) leben in einer
großen Einrichtung der Behindertenhilfe in Norddeutschland. Die vielen
Wohnheime, Werkstätten, Schulen und Krankenhäuser sind in eine Ortschaft
integriert, in der es zahlreiche Betriebe und auch viele private Wohnungen
gibt. Die Einrichtung ist zwar immer noch eine ‚Anstalt‘, der Besucher kann
davon allerdings kaum noch etwas erkennen, da nur noch sehr wenige Häuser von
hohen Zäunen umgeben sind. Das Haus A., in dem Herr A. wohnt, ist zwar ein
recht imposantes Gebäude mit sechs Wohngruppen zu je 7 – 9 BewohnerInnen, der
große Garten ist aber frei zugänglich und die dort lebenden BewohnerInnen können
selbst entscheiden, wo sie sich aufhalten möchten. Anders in Haus B., dem
Wohnort von Herrn B. Die BewohnerInnen dieses Hauses benötigen in höherem Mass
Aufsicht und Schutz. Hier sind die großen Gärten, die von den einzelnen
Wohngruppen aus direkt zugänglich sind (in der 1. Etage gewöhnlich über eine
Rampe) jeweils von einem Zaun umgeben, der es den BewohnerInnen ermöglicht,
sich auch ohne die ständige Aufsicht durch eine Betreuungsperson alleine im
Garten aufzuhalten. Die meisten Gruppen sind hier verschlossen, damit die in
der Regel orientierungslosen und hilfebedürftigen BewohnerInnen sich nicht
eigenständig auf Entdeckungsreisen begeben.
2.3.1
Beschreibung von Haus A., dem Wohnort von Herrn A.
Allgemeines
Haus A. ist ein Fachkrankenhaus, ein großes, älteres
Gebäude, das mehr als 50 BewohnerInnen auf 6 Gruppen beherbergt. In dem
ehemaligen Haus für schwer-behinderte erwachsene Männer wohnen mittlerweile
auch einige Frauen, wobei die Männer weiterhin in der Überzahl sind. Die Anzahl
der BewohnerInnen schwankt zwischen 7 und 9 BewohnerInnen pro Gruppe. Es wird
ein differenziertes Wohn- und Betreuungsangebot bereitgestellt. Zum Haus gehört
ein großer, parkähnlicher Garten, der mit Gartenstühlen und Schaukeln
ausgestattet ist. Auf dem Gelände befindet sich auch eine Werktherapie.
Das behindertengerecht ausgestattete Haus verfügt über
Hilfsmittel, die die Pflege erleichtern und die den Bedürfnissen der
BewohnerInnen hinsichtlich Selbständigkeit entgegen kommen. Das Haus ist über
eine flache Rampe auch für RollstuhlfahrerInnen zugänglich. In der Nähe des
Hauses befindet sich in ca. 200 m Entfernung die öffentliche Bushaltestelle.
Das
Zimmer von Herrn A.
(Die folgenden Abschnitte wurden aufgrund eigener
Beobachtungen verfasst.)
Das Zimmer liegt in einer Gruppe im Erdgeschoss. Herr A.
nutzt das Zimmer alleine. Im Zimmer befindet sich ein Waschbecken, alle Utensilien
zur Körperpflege wie Rasierapparat, Zahnbürste, Kamm und Handtücher sind in
einer für Herrn A. erreichbaren Höhe angeordnet. Das Bett ist mit einem in der
Einrichtung konstruierten Metallgestell versehen, an dem er sich hochziehen
kann. Eine Schiene, die mit einer Kurbel versehen ist, ermöglicht ihm ein
selbständiges Drehen im Bett.
Das Zimmer ist möbliert mit einem Sessel, einem Tisch, einem
Regal sowie einem Schrank. Herr B. verfügt über einen Fernseher im Zimmer sowie
eine kleine Musikanlage. Die Geräte sind mit Hilfe einer Fernbedienung vom Bett
aus zu bedienen. Eine Klingel am Bett hilft ihm, sich bemerkbar zu machen. Die
Wände des Zimmers sind mit von ihm hergestellten persönlichen Kunstwerken sowie
Photographien geschmückt. Einige Steckspiele stehen im Regal. Der Türgriff zu
seinem Zimmer wurde mit einer Griffverlängerung versehen, sodass Herr A. in der
Lage ist, im Rollstuhl eigenständig sein Zimmer zu betreten oder zu verlassen.
Badezimmer,
Sanitärbereich
Das geräumige rollstuhlgerecht eingerichtete Bad befindet
sich neben seinem Zimmer. Herr A. teilt es mit einigen anderen Bewohnern. Das
Bad hat ein Fenster, es ist hell und freundlich, mit Pflanzen geschmückt. Es
ist mit einer Hubwanne und einer Toilette ausgestattet. Ein Lifter steht zur
Verfügung und wird nach Benutzung in Herrn A.‘s Zimmer abgestellt. Diverse
Schaumbäder und Lotionen zum Einreiben stehen auf der Ablage. Eine weitere
separate rollstuhlgerechte Toilette befindet sich neben dem Bad.
Der gemeinsame Aufenthaltsbereich der Gruppe vereint eine
Küchenzeile mit integrierter Theke mit einem Ess- und einem Wohnbereich. Die
Küchenzeile verfügt über einen Herd, Kühlschrank, Spülmaschine, eine Spüle
sowie diverse Schränke, sodass kleine Mahlzeiten dort selbst zubereitete werden
können. Das Mittagessen wird aus der Zentralküche geliefert. Frühstück und
Abendessen werden auf der Gruppe von den Mitarbeitern vorbereitet.
Alle BewohnerInnen finden an ihren Stammplätzen an einem
großen Tisch Platz.
Im selben Raum befindet sich eine geräumige Wohnzimmerecke
mit mehreren Sofas und elektrisch verstellbaren Sesseln. Ein Fernsehgerät sowie
eine Stereoanlage vervollständigen die Ausstattung. Der Raum ist hoch und hell,
mit freundlichen Vorhängen vor den großen Fenstern, die sich zum Garten hin
öffnen. Der Raum vermittelt eine ruhige, kommunikative Atmosphäre und
ermöglicht es auch schwachen BewohnerInnen, am Geschehen teilzuhaben.
Im Flur stehen mehrere Sessel, die zum Verweilen einladen,
sowie eine Kommode und ein Schrank, in dem u.a. die Insulinspritzen für Herrn
A. in Reichweite aufbewahrt werden. Die eine Seite des Flures ist mit einem
Handlauf versehen. Das Dienstzimmer befindet sich ganz am Ende des Flures.
Mehrere Fenster öffnen sich vom Flur zum Hof und ermöglichen einen Blick auf
den Haltepunkt der Busse, die die BewohnerInnen zur Arbeit oder in die
Senioren-Tagesstätte abholen.
Im Eingangsbereich des Hauses ist eine Sitzecke mittels
Garderobenständer als Raucherecke abgeteilt. Hier im Foyer mündet die Treppe
aus den anderen Etagen, ebenso befinden sich hier die Zugänge zum Garten, zum
Fahrstuhl, sowie zum ehemaligen Speisesaal, der jetzt als Veranstaltungsraum
genutzt wird. Somit ist das Foyer ein Durchgangsraum mit regem
Publikumsverkehr. Es ist recht dunkel, da nur durch die Türen Licht herein
kommt. Der Raum ist etwas verraucht und nicht sehr gemütlich.
Allgemeines
(Die Inhalte dieses Absatzes wurde in Auszügen einer
Informationsbroschüre über das Haus entnommen). Haus B ist ein Wohnheim für
Menschen mit schweren Behinderungen innerhalb der in 2.3 genannten Einrichtung.
Haus B. hat 64
Plätze. In 8 Wohneinheiten leben fünf bis neun Kinder, Jugendliche und junge
Erwachsene zusammen. Es gibt Einzel- und Doppelzimmer, die auf Wunsch mit
persönlichen Möbeln eingerichtet werden können. Außerdem stehen zur gemeinsamen
Nutzung behindertengerecht ausgestattete Sanitärräume, eine Küche sowie Wohn-
und Gemeinschaftsräume zur Verfügung. Darüber hinaus verfügt das Haus über
einen Bewegungsraum, einen Snoezelenraum, einen Freizeitraum sowie einen großen
umfriedeten Garten mit Trampolinen, Schaukeln und Sandkästen.
In dem Haus leben Kinder und Jugendliche mit schweren
Mehrfachbehinderungen, Autismus und Epilepsie im Alter von sechs bis zwanzig
Jahren, die dauerhafte stationäre pflegerische und pädagogische Betreuung über
24 Stunden benötigen.
Die BewohnerInnen werden von MitarbeiterInnenteams betreut,
in denen im wesentliche folgende Qualifikationen vorhanden sind: ErzieherInnen,
Pflegefachkräfte, HeilpädagogInnen, Heilerziehungs-PflegerInnen,
Zivildienstleistende, Diakonische Helferinnen und PraktikantInnen. Gruppen
übergreifend sind eine Motopädin (psychomotorische Förderung) und
KrankengymnastInnen beschäftigt. Zwei Hausärzte des Ärztlichen Dienstes
gewährleisten die medizinische Betreuung der Grunderkrankungen. Zusätzlich
stehen den BewohnerInnen auch die anderen Fachdienste der Einrichtung zur
Verfügung, z.B. der Psychosoziale Dienst, der Bewegungs- und
Sporttherapeutische Dienst, das Freizeit- und Kulturzentrum, die
Sprachtherapie, die Reittherapie, die Musiktherapie und der Seelsorgerische
Dienst.
In der Einrichtung wird nach dem Bezugspersonensystem
gearbeitet. Für jede BewohnerIn wird eine individuelle Betreuungsplanung
durchgeführt, in der spezielle Entwicklungsziele festgelegt und überprüft
werden. Herr B. lebt in einer Gruppe mit sieben weiteren schwerstbehinderten
jungen Männern und Frauen, von denen vier RollstuhlfahrerInnen sind.
Zimmer
von Herrn B.
(Die folgenden Abschnitte wurden aufgrund von eigenen
Beobachtungen verfasst.)
Herr B. teilt sich ein relativ kleines Zimmer mit einem
anderen schwerbehinderten jungen Mann. Das Pflegebett von Herrn B. ist mit dem
Kopfteil an eine Wand gestellt, sodass man Herrn B. von beiden Seiten her
pflegen kann. Auf dem Bett liegen verschiedene Lagerungshilfen für Herrn B.,
wie ein länglicher Schaumstoffblock, eine Lagerungsschlange sowie diverse
Kissen. Das Bett des anderen Bewohners steht längs an einer Wand. Im Zimmer
befinden sich außerdem zwei Kleiderschränke, drei Hängeschränke mit
Pflegebedarf, zwei Nachttische und ein größerer radförmiger Ständer mit CDs.
Ein Waschbecken ist in der Nähe des Eingangs an der Wand angebracht. Auf den
Fensterbänken und auf den Nachttischen stehen diverse Pflegemittel, Blumen
sowie Spielzeug. Eine große Leuchtfaserkugel steht am Fenster. Ein
Radiorekorder ergänzt die Ausstattung.
Der Raum ist sehr eng und wenn die beiden Rollstühle in das Zimmer gefahren
werden, ist kaum noch Platz und Bewegungsfreiheit für die Versorgung und Pflege
vorhanden, eine Tatsache, die von den MitarbeiterInnen dieser Gruppe sehr
bedauert wird. Aus diesem Grund befindet sich Herr B. nur nachts in seinem
Raum, tagsüber wird er zum Schlafen in den Gruppenräumen speziell im
Wohnbereich gelagert.
Wohnraum
Der Wohnraum, der der gesamten Gruppe zur Verfügung steht, ist
sehr geräumig. Eine Sofaecke mit 6 – 8 Sitzplätzen in der Nähe des Eingangs ist
um einen flachen Tisch herum gruppiert. An der Wand steht ein Fernseher.
Daneben liegen mehrere Gymnastikmatten am Boden mit ‚Trilops‘ als
Lagerungshilfen, diverse Kästen mit verschiedenem Spiel- und Greifmaterial
stehen am Boden. Ein großes Ruhebett auf einem kniehohen Podest befindet sich
in einer Ecke des Raumes an einem großen Fenster, dessen Luftraum zwischen den
beiden Scheiben wie ein Aquarium mit einer Blasensäule, Fischen und Pflanzen
dekoriert ist. Grosse niedrig angebrachte
Fenster geben in dem ebenerdigen Raum den Blick zum Garten frei. Eine
Tür öffnet sich zur Terrasse und zu einem eingezäunten Garten, der verschiedene
Spielgeräte, unter anderem eine Schaukel enthält. Ein spezielles Lagerungsbett,
welches eigens für dieses Haus konstruiert wurde, steht an der verglasten Wand
zur Küche. Alle Seitenteile des Bettes sind abnehmbar, Lagerungshilfen für die
speziellen Bedürfnisse von Herrn B. liegen dort für ihn parat.
Auf einer Matte vor dem Fenster zum Garten befindet sich
eine Art Zelthaus, in dem man liegen kann, aus verschiedenen taktilen
Materialien zusammengesetzt. Mitten im Raum steht ein grosses Schaukelpferd,
verschiedene Kuscheltiere, eine Bongo, Riesen -Plastik- Legos, Duplos sowie
diverses Tast- und Greifspielzeug liegen auf Fensterbrettern und Matten sowie
in Spielkisten. Unter der Decke sind Baustahlgitter angebracht, von denen z.B.
ein Moskitonetz über dem Lagerungsbett, sowie eine ‚Stoffdusche‘ über der
Weichbodenmatte hängen. Fensterbretter und Heizkörper sind mit Holz verkleidet.
Die Wände sind weiß gestrichen, Bilder hängen nicht an den Wänden.
Direkt neben dem Wohnraum befindet sich der Essraum als
Verbindungsraum zwischen dem Wohnraum, der Küche sowie einer Art Snoezelenraum.
Die Wandflächen zur Küche sind verglast
und ermöglichen einen Einblick in das Geschehen in der Küche. Der Raum ist
länglich und nicht sehr gross. Als Durchgangsraum befinden sich Türen, bzw.
Wandöffnungen an drei Seiten des Raumes. Grosse Fenster öffnen sich zum Garten
hin. Um einen großen ovalen Tisch sind einige Stühle gestellt. Dazwischen ist
Platz für die Rollstuhlfahrer ausgespart. Ein Rollstuhlfahrer wird zum Essen in
einen Spezialstuhl umgesetzt. Der Raum ist zum Snoezelenraum hin offen und
wirkt dadurch etwas größer.
Dieser
Raum wurde während meiner Anwesenheit von den BewohnerInnen nicht genutzt. Im
Raum befindet sich ein Wasserbett, ein Spieltunnel am Boden sowie ein
Schaukelstuhl. Der Raum ist etwas abgedunkelt.
Die behindertengerecht ausgestatteten Sanitärräume wurden
während meiner Anwesenheit nicht von Herrn B. in Anspruch genommen. Die
Körperpflege fand im Bett, bzw. auf dem Lagerungsbett statt.
Herr B. besitzt einen speziell für ihn gepolsterten und
seinem Körper angepassten Rollstuhl, neigbar in verschiedene Positionen,
ausgestattet mit einem Schafsfell, Fußpolstern, Sitzpolstern,
Abduktionskeil und Kopfpolster. Eine
Sondenpumpe ist am Gestell befestigt.
2.3.3 Beschreibung der Seniorentagesstätte, Haus St.,
Ort der tagesstrukturierenden Maßnahme von Herrn A.
(Die
folgenden Abschnitte wurden aufgrund eigener Beobachtungen sowie auf der Grundlage
eines Informationsgespräches mit einer Mitarbeiterin verfasst.)
Die Räume der Seniorentagesstätte wurde zu Beginn dieses
Jahres bezogen. Sie befinden sich in einem umgebauten, renovierten ehemaligen
Wohnheim. Es sind noch nicht alle Umbaumaßnahmen abgeschlossen. Immer wieder
ist Baulärm der Handwerker zu hören, die noch ausstehende Montagearbeiten
verrichten. Die Räume sind noch nicht komplett eingerichtet, aber mit dem für
den Tagesablauf notwendigen Mobiliar und Ausstattung versehen. Der
Blumenschmuck auf den Fensterbänken sowie einige Dekorgegenstände sorgen
bereits für eine freundliche Atmosphäre der Räume. Die weiß gestrichenen Wände
sind noch ohne Bilder-schmuck. Alle Räume wirken hell, neu und geräumig. Die
Flure sind breit und es gibt ausreichend Verkehrsfläche für die vielen
BewohnerInnen, die auf Rollstühle angewiesen sind.
Insgesamt bietet das Seniorenangebot 60 SeniorInnen Plätze
an. Davon sind 27 Plätze in der 1. Etage und 33 Plätze in der oberen Etage.
Beide Ebenen sind durch einen Fahrstuhl, bzw. über das Treppenhaus erreichbar.
Im unteren Bereich, der von Herrn A. besucht wird, stehen ein Bewegungsraum,
ein Ruheraum, 2 miteinander verbundene Kreativräume mit einem Lagerraum, 2
Begegnungsräume, von denen einer mit einer Küche verbunden ist, ein Büro, eine
geräumige Garderobe, in der auch Rollstühle und Gehwagen abgestellt
werden, sowie behindertengerecht
gestaltete Sanitärräume zur Verfügung. Ein breiter Flur verbindet die Räume miteinander.
Der Kreativraum, in dem Herr A. sich überwiegend aufhält,
besteht aus zwei Räumen, die durch Wandvorsprünge voneinander getrennt sind,
aber dennoch den Eindruck eines großen Raumes vermitteln. Zwischen den beiden
Räumen befindet sich keine Tür, weshalb alle Aktivitäten, die in dem einen Raum
stattfinden, auch im anderen Raum wahrgenommen werden. In jedem der beiden
Räume befinden sich zu einem Rechteck zusammen gestellte Arbeitstische, an
denen jeweils 6 Personen Platz finden können. Die Stühle sind gepolstert und
teilweise mit seitlichen Armlehnen versehen. Die Räume sind durch große
Fenster, die sich zu einem Garten hin öffnen, gut belichtet. Im vorderen
Bereich, der eher für saubere Arbeiten gedacht ist, befindet sich eine
Schrankwand, sowie ein Kiefernregal, in dem Beschäftigungsmaterial, Spiele
sowie Gebrauchsgegenstände aufbewahrt werden. Einige BesucherInnen haben einen
kleinen mit ihrem Namen versehenen Korb mit persönlichen Utensilien, wie z.B.
Strickarbeiten im Regal stehen. Mehrere Webrahmen sowie ein Spinnrad ergänzen
die Ausstattung dieses Raumes. Auf den Fensterbänken stehen Blumen, ein selbst
gebautes Mobilé hängt vor dem Fenster. Der ‚Malplatz‘ von Herrn A. befindet
sich in diesem Teil des Raumes. Sein höhenverstellbarer Tisch, der mit dem
Rollstuhl gut unterfahrbar ist, steht vor dem Fenster. Die Tischplatte ist
geneigt und an der vorderen Kante mit einer Leiste versehen, die das
Herunterrutschen der Gegenstände verhindern soll. Die Beleuchtung erfolgt von
vorne durch das Fenster, bzw. durch eine an der rechten Seite angebrachte
Leuchte (Herr A. malt mit der linken Hand). Gelegentlich wird der Tisch auch
von einem anderen Besucher benutzt, ist ansonsten aber vorrangig für Herrn A.
bestimmt. In einem Pappkasten liegen verschiedene Buntstifte und Bleistifte. Einige
Buntstifte haben einen dicken Durchmesser, die meisten sind bereits recht kurz.
Herr A. sitzt beim Malen mit dem Rücken zur Gruppe. Er kann sich nur durch
Abstoßen mit den Händen von der Tischplatte mit eigener Kraft dem Geschehen im
Raum zuwenden.
Im hinteren Bereich des Kreativraumes können auch
‚schmutzigere‘ Arbeiten verrichtet werden. In einer Ecke befindet sich ein
großes Spülbecken, an den Wänden Stahlregale, in denen Material überwiegend für
einfache Montage-Tätigkeiten, bzw. Briefmarken ausschneiden und sortieren
gelagert wird.
Zum Spielen mit Herrn F. wurde Herr A. in einen der
Begegnungsräume gefahren. Dort befindet sich eine aus mehreren Tischen
zusammengesetzte quadratische Tischfläche am Fenster, an denen 8 Personen Platz
finden. Der Raum ist bislang noch mit einem Ecktisch sowie einer
Glasvitrine ausgestattet. Dieser Raum
ist mit der Küche verbunden, die vom Raum her voll einsehbar ist. In der Küche
befindet sich ein weiterer separater Arbeitsplatz, der von BesucherInnen
genutzt werden kann, die etwas Abstand benötigen, aber dennoch am Geschehen
beteiligt sein sollen. Auch hier sind bereits Blumen auf den Fensterbänken. Die
Wände sind noch kahl, sollen aber demnächst auch mit Bildern versehen werden.
2.3.4 Beschreibung
der Werktherapie Haus Wt., dem Arbeitsplatz von Herrn B.
(Der
folgende Abschnitt wurde aufgrund eigener Beobachtungen verfasst.)
Die Werktherapie Haus Wt. ist in einer Art altem Industriegebäude
untergebracht. Der Zugang erfolgt ebenerdig über einen kleinen Vorhof. Nach
Betreten des Gebäudes steht man sofort in einer grossen Werkhalle. Die
Werktherapie besteht aus mehreren Abteilungen. Im vorderen Bereich, den Herr B.
täglich besucht, befindet sich die Abteilung für Stuhlflechterei mit 9
Arbeitsplätzen sowie ein Teil der Kerzenproduktion mit 5 – 6 Plätzen in einer
durch Raumteiler abgetrennten Nische. In der Stuhlflechterei werden alte Stühle
repariert, geflochtene Sitzflächen und Rückenlehnen erneuert. Diese sowohl
motorisch als auch kognitiv recht anspruchsvolle Arbeit, die viel Ausdauer
erfordert, wird von MitarbeiterInnen mit einem vergleichsweise hohen
Leistungspotential ausgeführt.
Herr B. ist ebenso wie sein Kollege Herr T. ein Mitarbeiter,
der nicht in der Lage ist, solcherlei Tätigkeiten auszuführen. Seine ‚Arbeit‘
beschränkt sich hier auf eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft sowie auf
spezielle Einzelförderung, die an anderer Stelle beschrieben wird. Da Herr B.
nicht in der Lage ist, den ganzen Vormittag im Rollstuhl zu sitzen, wurde
speziell für ihn in einer geschützten Ecke des Raumes ein Ruhebett aufgebaut.
Ein darüber aufgehängtes Moskitonetz sorgt bei Bedarf für einen leichten
Sichtschutz, da Herr B. an diesem Ort auch gewindelt wird. Lagerungshilfen
sowie taktile Materialien sorgen für eine seinen Bedürfnissen angemessene
Ausstattung. Für den zweiten schwerbehinderten Bewohner Herrn T. ist zusätzlich
ein Lifter vorhanden. Herr B. wird aufgrund seines leichten Gewichtes in der
Regel von einer oder zwei MitarbeiterInnen direkt auf die Liege gehoben. Für
die Betreuung der beiden schwerbehinderten Mitarbeiter wurde eine zusätzliche
Mitarbeiterin eingestellt, die aber während Urlaubs- und Krankheitszeiten auch
für die anderen MitarbeiterInnen sowie für Kundenbetreuung und Überwachung der
Produktionsarbeit zuständig ist.
Weitere Arbeitsräume, ein kleines Büro und
Besprechungszimmer, ein Pausenraum mit kleiner Teeküche vervollständigen die
Werkstatt. Der Sanitärbereich ist nicht entsprechend den Bedürfnissen zur
Pflege schwerstbehinderter Menschen ausgestattet. Die Pflegemaßnahmen müssen,
wie oben bereits erwähnt, im Arbeitsraum stattfinden, wodurch die Wahrung der
Intimsphäre nur unzureichend gewährleistet ist. Jeder Kunde, der die Werkstatt
in Zeiten der Pflege betritt, aber auch die anderen Mitarbeiter haben
Einblick in die Pflegemaßnahmen.
Da es sich bei der Integration von Menschen mit schweren
Mehrfachbehinderungen in den allgemeinen Arbeitsbereich der Einrichtung um ein
relativ neues Konzept handelt, sind hierbei sicherlich noch nicht alle
wünschenswerten Rahmenbedingungen gegeben, zumal sich diese Werktherapie in
einem recht alten Gebäude befindet, welches ursprünglich zu anderen Zwecken
gebaut wurde.
2.4 Beschreibung der beiden untersuchten Personen
Im Folgenden sollen die beiden Männer, mit denen sich die
Einzelfallstudien befassen, so beschrieben werden, dass dem Leser die
Persönlichkeit der beiden deutlich wird. Dies betrifft sowohl ihre
Charakterzüge, als auch auf ihre Fähigkeiten und die durch die Behinderungen
bedingten Einschränkungen. Biographische Aspekte sowie die Schilderung der
Krankengeschichte sollen das Bild abrunden.
2.4.1
Beschreibung von
Herrn A.
(Bei
den Angaben handelt es sich um Auszüge aus der Stationsakte )
Diabetes mellitus, Spastische Tetraparese rechts betont (in
der Akte steht ‚links‘- betont, das ist falsch; Anm. der Autorin), leichte geistige Behinderung
Herr A. wurde 1926 in Norddeutschland unehelich geboren.
Sein Vater ist unbekannt. Die Mutter war taubstumm. Sie arbeitete in der
Landwirtschaft. Herr A. wurde ‚normal‘ geboren, lebte bis zum Ende des dritten
Lebensjahres bei der Mutter und der Tante. Über angeborene Geisteskrankheiten
ist nichts bekannt. Herr A. wird als körperlich und geistig zurückgeblieben
beschrieben. Er konnte nicht laufen. Die Parese des rechten Armes sowie beider
Beine wird in Zusammenhang mit einer Polioerkrankung gesehen. Bis zum 4.
Lebensjahr konnte er nur ‚Papa‘ und ‚Mama‘ sagen. Es liegt eine spastisch
bedingte Sprachbehinderung vor. Damals beobachtete er kaum Gegenstände oder
seine Umgebung. Er wurde als geistig behindert auf dem Entwicklungsstand eines
einjährigen Kindes eingestuft. Er besuchte den Hilfskindergarten, in dem er nur
malen erlernen konnte.
Im August 1930 wurde er in eine Heil- und Pflegeanstalt
aufgenommen, wo er bis zum März 1938 lebte. Vor dort wurde er in die
Einrichtung verlegt, in der er auch heute noch lebt. Zunächst kam er in ein
Haus für schwerstbehinderte Kinder, später, 1943, in ein Haus für
schwerstbehinderte Erwachsene, wo er heute noch wohnt.
Im Alter von 13 Jahre erlitt er 1939 erstmals einen epileptischen
Anfall (Gran mal). In der Regel traten seitdem 1 – 4 Anfälle im Monat auf. Der
letzte Anfall wurde am 24. 12. 1963 dokumentiert. In dieser Zeit konnte Herr A.
noch einige Schritte laufen, wenn er sich seitlich an einem Gegenstand
festhielt und orthopädische Schuhe trug.
Zur Mutter bestand bis zu ihrem Tod immer ein enger Kontakt
durch Briefe, Pakete und Besuche, genauso wie zu seiner Tante und zu seinem
Onkel, die ebenfalls manchmal Pakete oder Briefe schickten oder ihn besuchten.
Mittlerweile sind auch diese verstorben.
Herr
A. lebt nun in einer Gruppe mit 8 männlichen und einer weiblichen Bewohnerin im
Alter von 29 – 94 Jahren.
Früher war er in der Beschäftigungstherapie mit Holzarbeiten
beschäftigt, sowie zeitweise in der ehemaligen Großküche des Hauses als
Küchenhilfe. Nun ist er Rentner und besucht die Seniorentagesstätte. Eine
seiner Lieblingsbeschäftigungen ist dort das Malen.
Herr A. ist durch spastische Lähmungen unterschiedlicher
Ausprägungen in den unteren und oberen Extremitäten vollständig an den
Rollstuhl gebunden und durch eine ebenfalls spastisch bedingte
Sprachbehinderung stark beeinträchtigt. Die Lähmungen, von denen auch die
Rumpfmuskulatur betroffen ist, haben sich - nochmals verstärkt in den letzten
Jahren – kontinuierlich verschlimmert. Herr A. ist kognitiv dazu in der Lage,
die aus seinen Behinderungen resultierenden Einschränkungen wahrzunehmen und
u.a. auch verbal zu realisieren. Emotional fällt es ihm allerdings immer wieder
sehr schwer, die, vor allem durch seine Körperbehinderung gesetzten Grenzen und
die ständige Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen zu akzeptieren. Dies
führt immer wieder zu Konflikten und dadurch notwendigen Konfliktklärungsprozessen.
Zeitweise ist Herr A. aus besagten Gründen aber auch sehr in sich zurückgezogen
und traurig verstimmt und benötigt von den Mitarbeitern viel unterstützende
Motivationshilfe.
Neben seiner Körperbehinderung und seiner leichten geistigen
Behinderung leidet Herr A. seit einigen Jahren an Diabetes Mellitus sowie an
arterieller Hypertonie. 1985 wurde seine Gallenblase entfernt. Er wurde
ebenfalls bereits einmal wegen eines mechanischen Ileus operiert. In den
letzten Jahren traten Prostatabeschwerden auf. Wegen dieser Erkrankungen erhält
er einige Medikamente. Eine Anfallsmedikation bekommt er nicht mehr.
Die gesetzliche Betreuung in Bezug auf Heilmaßnahmen wurde
Anfang 1993 aufgehoben, da Herr A. in der Lage ist, grundlegende Entscheidungen
sein Leben betreffend selbst zu fällen.
ADL
Ausführliche Angaben, zu den Fähigkeiten im ADL – Bereich,
die zum Verständnis von Herrn A. wichtig sind, finden sich in Anlage 1. Sie werden an dieser Stelle nicht
eingefügt, da es sich um die Ausarbeitungen anderer MitarbeiterInnen handelt.
In einem Entwicklungsbericht aus dem Jahr 1995 werden für
Herrn A. folgende Schwerpunkte des Betreuungsangebotes formuliert:
Grundpflege, aktivierende Pflege und gezielte
Krankenbeobachtung, medizinische Betreuung, pädagogische Förderung und
Unterstützung im lebenspraktischen Bereich, Hilfe zur Kommunikation bezüglich
der Förderung und des Erhalts von Kontakten mit dem direkten und weiteren
Umfeld. Durchführung und Begleitung von soziotherapeutischen und tagesstrukturierenden
Maßnahmen, Freizeitgestaltung, die ständige Präsenz eines Mitarbeiters auch
während der Nacht.
2.4.2 Beschreibung
von Herrn B.
Schwerste geistige Behinderung, aktive Epilepsie, cerebrale
Bewegungsstörung, Tetraparese, extrapyramidales Syndrom, anamn. Athetose,
Ätiologie: Frühkindliche Hirnschädigung (FKHS);
Diese Diagnosen wurden im Mai 1999 um weitere Diagnosen
ergänzt:
Neigung zu Pneumonien; Barett Oesophagus bei
Cardiainsuffizient und Hiatusgleithernie, Osteoporose, schwere Skoliose,
Hüftluxation bds. (rechts wohl congenial mit Hüftkopfsnekrose). Port
Explantation 1998 (Z.n. nekrotisierender Cholecystitis und biliarer Peritonitis;
Z.n. Cholezystektomie, Splenektomie, Fundoplication, PEG – Entfernung und
Enterostomie zur Anlage einer Jejunal-fistel, 1998; Anamn. Hypothyreose, damals
Substitution; Unzureichender Mundschluss infolge UK- Deformierung,
Thrombozytose.
Grundleiden:
symptomatische, multifokale Epilepsie, schwerste spastische Tetraparese mit
Kontrakturen, anamn. mit athetotischen Anteilen (z.Zt.. bis auf Kopfdrehung
keine Bewegung mehr möglich) und schwerste Intelligenzminderung aufgrund FKHS.
Herr B. wurde 1972 geboren. Er ist seit seiner Geburt
schwerstbehindert. Nach Aussagen der Mutter ist der Grund der Behinderung nicht
bekannt. Es liegen keine krankengeschichtlichen Unterlagen aus der Zeit vor der
Aufnahme in die Einrichtung vor. Bis zum 4. Lebensjahr lebte Herr B. bei seinen
Eltern im Haus der Großeltern. Der Vater war Alleinverdiener, die Mutter
pflegte unterstützt von der Großmutter Herrn B, das einzige Kind. Sie nahmen
regelmäßig am Behindertenturnen sowie an Bewegungsgymnastik teil. Danach zog er
mit seinen Eltern in ein behindertengerechtes neues Haus.
Seit Juli 1979, d.h. seit seinem 7. Lebensjahr, nach der
Trennung seiner Eltern, lebt er in der Einrichtung, in der er heute noch ist.
Die Eltern haben erneut geheiratet. Herr B. hat zwei Halbgeschwister, zu denen
bislang kein Kontakt besteht. Der Vater hat seit dem 18. Lebensjahr die
gesetzliche Betreuung von Herrn B. übernommen.
Von 1980 – 1997 besuchte Herr B. die zur Einrichtung
gehörende Schule für Menschen mit schwersten Behinderungen. 1997 wurde er in die Werktherapie Haus Wt.
aufgenommen.
Herr B. ist bettlägerig, seine Mobilität ist extrem
eingeschränkt, er kann selbständig nur noch den Kopf etwas drehen. Wenn er sich
verspannt hat, ist er nicht in der Lage, dies Verspannungen selbständig zu
lösen, dies geht nur mit Hilfe von Massage und Lagerung. Er ist in Pflegestufe
I eingruppiert.
Hilfsmittel: Er ist auf einen speziell für ihn gefertigten
Rollstuhl angewiesen, hat einen Badewannenlifter sowie eine Antidekubitusauflage.
Bis 1996 trug er ein Stützkorsett.
Die symptomatisch, kryptogene fokale Epilepsie äussert sich
in folgenden Anfallstypen:
1. Myoklonisch:
Zuckungen im Augenbrauen- und Kinnbereich
2. Tonisch:
‚eye-opening‘ mit Verdrehung der Bulbi nach rechts oben für ca. 15 –20 Sekunden
3. Tonisch.:
Streckung der Arme, z.T. Stöhnen oder kurzer Schrei, dann einige Sekunden
Schnaufen, danach sofort oder in 1 Min. Ansprechbar.
4. Grand-
Mal
Eine
verbale Verständigung mit Herrn B. ist nicht möglich. Er kann weder ‚ja‘ noch ‚nein‘
signalisieren.
In der Krankengeschichte fallen die sehr häufigen Pneumonien
mit jeweils längeren
Krankenhausaufenthalten besonders in den letzten Jahren auf. Hinzu kommen die Komplikationen,
die durch die PEG- Sonde entstanden waren; der Port wurde gegen eine
Dünndarmsonde ausgetauscht, was ebenfalls mit längeren Krankenhausaufenthalten
und Operationen verbunden war. Aus
Erzählungen der Mitarbeiter wird deutlich, dass Herr B. bereits mehrere Male
dem Tod sehr nahe war und seine Gesundheit äußerst fragil ist.
ADL
Ausführliche Angaben, zu den Fähigkeiten im ADL – Bereich,
die zum Verständ-nis von Herrn B. wichtig sind, finden sich in Anlage 2. Sie werden an dieser Stelle nicht
eingefügt, da es sich um die Ausarbeitungen anderer MitarbeiterInnen handelt.
Das Abschlusszeugnis der Schule ist sehr ausführlich und
beschreibt vor allem seine sozialen Fähigkeiten sowie seine
Wahrnehmungsfähigkeit. In Bezug auf das Sozialverhalten wird hier deutlich,
dass Herr B. ein geselliger Mensch ist, der gerne am Geschehen teil hat.
Besonders sein ‚strahlender Blick‘ wird hervorgehoben.
In Bezug auf seine Wahrnehmung werden Reaktionen auf
visuelle, akustische und olfaktorische Reize beschrieben. Einen weiten Raum
nimmt die Beschreibung des taktil- kinestätischen Bereiches ein, seine
Reaktionen auf Lagerung, Massage, Vibration, Bürsten und Ähnliches. Die Stärke
seiner Reaktion wird hierbei als abhängig von der Intensität der Zuwendung durch die MitarbeiterInnen beschrieben. Die
Kommunikationsangebote von Herrn B., die sich in Lachen, Strahlen, Mimik,
Lautieren oder auch in Verspannung und Weinen äußern, sollten nach Empfehlung
der Schule von den MitarbeiterInnen als Ausdruck seiner Bedürfnisse verstanden
werden und zu entsprechenden Reaktionen der MitarbeiterInnen führen.
Herr B. wurde im September 1997 in die Werktherapie in das
Haus Wt. aufgenommen. Aufgrund seiner schwachen Konstitution ist er nur
halbtags in der Werk-Therapie, jeweils vormittags von 9.00 bis 11.30 Uhr. Er
war im letzten Jahr neun Monate lang krank und im Krankenhaus und muss sich nun
erst wieder neu in der Werkstatt akklimatisieren. Da er von sich aus aktiv keine
Tätigkeit aufnehmen kann, nimmt er als Zuschauer am Geschehen teil und erhält
täglich ca. eine halbe Stunde intensive
Zuwendung durch die MitarbeiterInnen. Nach Aussage der Mitarbeiterin wird er
voll von den ArbeitskollegInnen akzeptiert und integriert (vergl. dazu die
Interviews mit den behinderten ArbeitskollegInnen, Anlage 5). Die Werktherapie
soll Herrn B. eine Tagesstruktur vermitteln und ihm die Fahrt zur Arbeit sowie
Aufenthalt als Wahrnehmungsanreize anbieten. Eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft
soll somit ermöglicht werden.
In einer Stellungnahme zum Grund- und Aufbaukurs im
Arbeitstrainingsbereich wurden 1998 folgende Trainingsziele und
Trainingsinhalte für Herrn B. formuliert:
Trainingsziele:
-
Stabilisierung seiner gesundheitlichen
Konstitution
-
Förderung seiner
Wahrnehmungsfähigkeiten
-
Soziale Integration in die
Arbeitsgruppe
Trainingsinhalte:
-
Festlegen eines kontinuierlichen
Förderplans (Wochenplan)
-
Durchführung von Wahrnehmungsübungen
-
Vermittlung von Kontakten zu
Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe
Der
für Herrn B. erstellte Wochenplan sieht folgende Aktivitäten für ihn vor:
Montags:
10.20 Pflege, Spazieren
gehen bei geeignetem Wetter und
Verfassung,
Dienstags:
10.00 Lagern im Arbeitsbereich, Krankengymnastik
Mittwochs:
10.00 – 10.30 Massage,
Aromatherapie
Donnerstags:
10.30 Bewegungsförderung,
Krankengymnastik, feinmotorische
Übungen wie Greifen
Freitags:
9.15 – 9.40 Visuelle
Stimulation, Wachsraum, Kerzen abdrehen
In
den nicht ausgewiesenen Zeiten nimmt Herr B. am Arbeits- oder Pausengeschehen
durch Zusehen und Präsenz teil.
Mit Hilfe eines Erfassungsbogens zum personellen Aufwand für
die Pflege und Betreuung in der WfB wurde die Einstellung einer zusätzlichen
Betreuungsperson in der Werkstatt geltend gemacht und anerkannt. Die in diesem
Bogen gemachten Angaben sind im Wesentlichen aus den vorherigen Angaben
bekannt.
In einem ersten Schritt (Kapitel 3.1 und 3.2) sollen die in
den Beobachtungsprotokollen (vergl. Anlage 3) festgehaltenen Aktivitäten für
jeden der beiden Bewohner zusammenfassend in der Form eines erzählenden
Berichtes über die Tagesabläufe dargestellt werden.
Danach erfolgt in den Kapiteln 3.3 und 3.4 eine
Kategorienbildung hinsichtlich der Bezeichnung der verschiedenen Aktivitäten
sowie eine grobe Ermittlung der dafür verwendeten Zeiten. Als Hilfsmittel für
eine Auswertung der Beobachtungen, die in den Beobachtungsbögen protokolliert
sind, wurde ein Raster entwickelt (vergl. Anlage 6.A für Herrn A. und 6.B für
Herrn B.). Hierbei ging es zunächst darum, die Begriffe zu ordnen, mit denen
Betätigungen beschrieben wurden und deren Häufigkeit und jeweilige Dauer zu
erfassen.
Die Ergebnisse der Befragungen der MitarbeiterInnen (vergl.
Anlage 4) sowie bei Herrn B. der ArbeitskollegInnen (vergl. Anlage 5) werden in
den Kapiteln 4 eingearbeitet. Hierbei geht es zum einen darum, die Begriffe,
die hier verwendet werden mit den von der Autorin gewählten zu vergleichen und
zum anderen darum, Hinweise auf die möglichen Bedeutungen der Tätigkeiten zu
erhalten.
3.4 Ein Tagesablauf im Leben von Herrn A.
Der
Bericht ist aus Sicht der Autorin geschrieben.
Am Morgen im
Wohnbereich
Morgens um 6.45 Uhr klingelt der Wecker von Herrn A. In der
Regel ist er wie an diesem Tag schon wach und wartet auf die MitarbeiterIn. Er
steht gerne früh auf, nur am Wochenende schläft er etwas länger. Er kann nicht
selbstständig aufstehen. Die Mitarbeiterin zieht ihm nach der Begrüßung
den Schlafanzug aus und setzt ihn in
den Lifter. Heute entscheidet sich Herr A. für ein Bad. Bei meiner Ankunft in
Haus A., sitzt Herr A. bereits in der Badewanne und hat nach einer kurzen
Begrüßung und Einwilligung in meine teilnehmende Beobachtung, schon die erste
Frage hinsichtlich einer kommenden Musikveranstaltung mit mir parat. Das Baden
ist ebenso wie das anschließende Abtrocknen, Körperpflege und Anziehen
gekennzeichnet von ausgiebigem verbalen Kontakt, ‚Small-Talk‘ über gemeinsame
Aktionen und Erlebnisse aus dem Alltag des Bewohners. Nach dem Baden wird Herr
A. in sein Zimmer zurück gefahren und ruht sich etwas auf seinem Bett aus. Die
Mitarbeiterin erledigt in dieser Zeit andere Pflegearbeiten auf der Gruppe. Dann
wird Herr A. mit einer gut riechenden Lotion eingerieben. Die Mitarbeiterin
kommentiert ihr Handeln mit kleinen Späßen und Anmerkungen und bezieht Herrn A.
immer wieder in die Konversation mit ein. Während des Anziehens unterhalten
sich beide über anstehende Geburtstagsfeiern. Herr A. wird aufgefordert, zu
entscheiden, welche Schuhe er anziehen möchte. Zwischendurch läuft die
Mitarbeiterin kurz aus dem Zimmer, um den Rasierapparat eines anderen Bewohners
anzustellen, sie kommentiert es als notwendiges Übel eines Pflegealltags.
Nachdem Herr A. in seinem Rollstuhl sitzt, fährt er eigenständig zum
Waschbecken, putzt sein Gebiss, wäscht sich den Mund und die Hände, um sich
danach selbst zu rasieren. Es ist ihm wichtig, diese Arbeiten selbst erledigen
zu können und er ist offensichtlich gut gelaunt und lacht mich über den Spiegel
an.
Die Mitarbeiterin kontrolliert die Rasur und hilft ihm, das
Gebiss einzusetzen. Ein hereinkommender weiterer Bewohner fängt eine
Unterhaltung über seinen Geburtstag an. Ein lebhaftes Gespräch über
Geburtstage, Gebisse und ausfallende Zähne wird von Herrn A. mit der Frage nach
dem nächsten Termin für das Offene Singen mit mir unterbrochen. Dann fährt Herr
A. in Richtung Essraum. Vor jeder Mahlzeit erhält er eine Insulinspritze, an die
er die MitarbeiterInnen gegebenenfalls erinnert.
Das Frühstücksbrot für Herrn A. wird von einer Mitarbeiterin
geschmiert und auf ein Einhänderfrühstücksbrett gelegt. Herr A. isst
selbständig und benötigt nur Hilfe beim Schneiden und Portionieren des Essens.
Während der ersten Viertelstunde finden Gespräche in erster Linie zwischen den
Mitarbeiterinnen und mir statt. Herr A. bringt dann das Gespräch wieder auf das
Offene Singen und stellt mir einige Fragen.
Nach dem Frühstück fährt Herr A. zur Toilette und bittet die
Mitarbeiterin, seine Uhr aus seinem Zimmer mitzubringen. Herr A. benötigt
Hilfestellung beim Toilettengang, kann aber Mithelfen, sich aus dem Sitzen
hochzuziehen. Mit Hilfe einer am Rollstuhl befestigten Fahrradklingel
signalisiert er, dass er die Hilfe des Mitarbeiters braucht. Herr A. muss
danach den Rollstuhl wechseln, da der Fahrdienst nicht in der Lage ist, Herrn
A. mit seinem Rollstuhl, in dem er sich eigen-ständig mit Hilfe eines
Hebelarmes noch fortbewegen kann, in die Seniorentagesstätte zu transportieren.
Weder die Mitarbeiter noch Herr A. sind darüber sehr glücklich, da er dadurch
einen großen Teil seiner noch verbliebenen Selbständigkeit verliert. Herr A.
wird vor das Haus zum Kleinbus gebracht. Auf meine Frage, was er in der Seniorentagesstätte
mache, antwortet er: ‚spinnen‘. Für eine Nachfrage, was er damit meine, bleibt keine Zeit.
Vormittag in der
Seniorentagesstätte
Der Besuch der
Autorin in der Seniorentagesstätte erfolgt aus Zeit- und Kraft-gründen an einem
anderen Tag, es wird aber der Einfachheit halber so verfahren, als würde es
sich um denselben Tag handeln, da die Aktivitäten in der Seniorentagesstätte an
diesem Tag genauso hätten ablaufen können, wie an dem Tag, an dem die
Beobachtung durchgeführt wurde.
Herr A. steht bei meiner Ankunft mit anderen BewohnerInnen
im Flur der neuen Seniorentagesstätte und wartet darauf, begrüßt und in Empfang
genommen zu werden. Herr A. erzählt mir, dass er auf seinen Freund Herrn F. aus
seiner Wohngruppe warte. Herr A. würde auch extra wegen mir am Nachmittag
kommen, damit ich meine Arbeit über ihn schreiben könne, sonst käme er
eigentlich nicht, da es zu anstrengend wäre.
(Eine Rückfrage meinerseits bei den Mitarbeitern ergibt, dass er nachmittags
normalerweise auch immer kommt). Die Mitarbeiterin fragt Herrn A. nach
seinen Wünschen für diesen Vormittag und er entscheidet sich zu malen. Herr A.
wird noch mal darauf hingewiesen, dass seine Teilnahme an der
Seniorentagesstätte freiwillig sei und er selbst entscheiden könne, ob er am
Nachmittag kommen möchte oder nicht, woraufhin Herr A. seine Entscheidung
nochmals bekräftigt. Herr A. vertieft sich in seine Tätigkeit und lässt sich
auch durch neu hinzu kommende BewohnerInnen nicht ablenken. Ich stelle mich
kurz den anderen BewohnerInnen vor und bitte sie um deren Einverständnis, den
Tage beobachten zu dürfen.
Herr A. ist so sehr
in sein Malen vertieft, dass ihn sein Schnupfen nicht stört. Ich frage ihn, ob
er ein Taschentuch habe und helfe ihm, es zu suchen. Viertel nach neun ist Herr
F., der Freund angekommen. Herr A. wird darüber informiert, malt aber zunächst
ungestört weiter. Eine Mitarbeiterin informiert die Gruppe über den Kauf eines
Geschenkes für eine Kollegin, die ein Baby bekommen hat und lässt eine Karte
zum Unterschreiben herum gehen. Herr A.
hört aufmerksam zu, auch als die Mitarbeiterin ihm die Symbolik der Karte genau
erklärt, malt dabei aber weiter. Selbst ein heftiger Streit zweier
BewohnerInnen bringt ihn nicht aus der
Ruhe. Er betrachtet sich jeden Stift genau, bevor er die Farbe auswählt.
Nachdem ihm die Stifte alle einmal ausgekippt und in den Schoss gefallen sind,
grinst er, sammelt sie wieder ein und äußert dann, dass er nun mit Herrn F.
‚Mensch ärgere dich nicht‘ spielen möchte. Er beschließt, das Bild später weiter
zu malen, betitelt es als ‚kleiner Mensch mit Blumen und Vase‘ und bietet es
der Mitarbeiterin zum Geschenk an.
Dann wird Herr A. von der Mitarbeiterin in den
Begegnungsraum gefahren, wo Herr F. bereits das Spiel aufbaut. Herr F. ist
blind, sodass ich mich kurz bei ihm bemerkbar mache und ihn um sein
Einverständnis für die Beobachtung bitte. Da Herr F. mich kennt, hat er nichts
dagegen.
Die anderen BewohnerInnen am Tisch schauen sich Bilder der
letzten Karnevalsfeier an und können Bestellungen aufgeben. Auch Herr A.
bestellt einige Bilder. Er bietet seinen Malplatz nun seinem Tischnachbarn an.
Mittlerweile hat Herr F. das Spiel aufgebaut (Version für Blinde) und die
beiden beginnen zu spielen. Beide bilden ein eingespieltes Team und gehen sehr
sensibel auf ihre jeweiligen Behinderungen ein. Herr A. macht sich durch
leichtes Schlagen auf die Hand bei Herrn B. bemerkbar und führt auch einmal
dessen Hand zum richtigen Stein, wenn dieser einen ungünstigen Stein setzt.
Herr F. kommentiert sein Spiel laut, sagt die gewürfelten Zahlen an. Herr A.
muss sich das Brett immer wieder so zurechtrücken, dass er die Figuren
erreichen kann. Danach stellt er es jedesmal wieder in die Ausgangsposition
zurück, sodass Herr F. sich orientieren kann. Beide sind sehr konzentriert bei
der Sache, finden aber dennoch Raum, um sich zu unterhalten. Herr F. summt ein
Lied vor sich hin und führt eine kurze Unterhaltung mit mir. Herr A. bemerkt,
dass er schon drei Steine drinnen habe, was Herr F. ihm gerne gönnt.
Zwischendurch hat es den Anschein, als sei Herr A. kurz mal eingenickt, er
merkt erst, dass er an der Reihe ist, als Herr F. zum zweiten mal ziehen will.
Zu Beginn der Kaffeepause bittet die Mitarbeiterin Herrn F.,
ein Lied auf der Mundharmonika zu spielen; dies veranlasst Herrn A. dazu,
seinen Wunsch zu äußern, auf der Trommel zu begleiten. Während die
Mitarbeiterin die Trommel holt, beenden die beiden das Spiel, wobei Herr A.
gewinnt und es befriedigt registriert.
Mittlerweile sitzen alle um den Tisch und trinken einen
Kaffee. Herr A. fragt mich, ob es im neuen Freizeitzentrum das ‚Offene Singen‘
weiterhin gäbe. Ich berichte über die Fortschritte der Arbeit und die neuen
Möglichkeiten des Zentrums. Herr F. spielt einen Tanz, Herr A. begleitet ihn
auf der Trommel. Alle singen ein gemeinsames Lied, und fassen sich dabei an den
Händen.
Nach der Frühstückspause verwickelt Herr F. mich in ein
Gespräch über die Veränderungen in der Einrichtung, über Mitarbeiter, mein
Studium und den Inhalt meiner Studienarbeit. Herr A. beteiligt sich am Gespräch
bis zwei BesucherInnen den Raum betreten. Deren Unterhaltung ist so laut, dass
das Gespräch unterbrochen werden muss und erst nach Verabschiedung der
BesucherInnen wieder aufgenommen werden kann. Das Gespräch geht mit
unterschiedlichen Themen dann noch eine Weile weiter, bis Herr A. kurz nach elf
zur Toilette gebracht wird. Im Anschluss daran findet noch eine kleine
Abschlussrunde mit einem Lied statt, was Herr A. wieder mit der Trommel
begleitet. Ein Zivildienst-leistender bringt Herrn A. zum Kleinbus, um ihn ins
Wohnhaus zurück zu fahren.
Mittagspause
im Wohnbereich
Gleich nach der Ankunft wechselt Herr A. mit Hilfe der
Mitarbeiterin seinen Rollstuhl. Dies ist ihm so wichtig, dass er mich darauf
hinweist, es aufzuschreiben. Er wartet dann auf seinen Freund Herrn F, dessen
Zimmer neben dem Zimmer von Herrn A. liegt. Herr F. hält sich am Rollstuhl von
Herrn A. fest und dieser leitet ihn sicher in den Essbereich. Auch hier weist
Herr A. mich explizit darauf hin, dies aufzuschreiben. Danach fährt er zurück
in den Flur, um seine Spritze zu holen. Herr A. benutzt einige Hilfsmittel beim
Essen, wie Tellerranderhöhung und Griffverdickungen am Besteck. Er benötigt
Hilfestellung beim Portionieren sowie beim Öffnen von Gefäßen. Herr A. kommt
auch jetzt wieder auf das Thema ‚Offenes Singen‘ zu sprechen und wer ihn
dorthin bringen kann. Da einige MitarbeiterInnen in Urlaub oder krank sind,
scheint es schwierig mit der Begleitung zu werden. Die MitarbeiterInnen
unterhalten sich über dienstliche Belange. Verschiedene Gespräche laufen
durcheinander. Herr A. spricht mit Herrn F. über Probleme mit dem Fahrdienst
und Freiwilligkeit des Besuches der Seniorentagesstätte. Etwa eine halbe Stunde
lang werden noch verschiedene Themen am Tisch besprochen. Herr A. signalisiert
das Ende der Mahlzeit und fährt dann Herrn F. zu seinem Zimmer. Nach dem Toilettengang wird Herr A. noch
etwas gewaschen und eingecremt. Zur Korrektur seiner Sitzposition zieht er sich
selbst mittels eines Handlaufes und Fußbrettes im Flur in seinem Rollstuhl
zurecht. Dann fährt er mit Herrn F. ins Foyer, weil dieser eine Pfeife rauchen
möchte. Herr A. ‚passt auf‘, dass Herr F. sich dabei nicht verbrennt, er selbst
raucht nicht. Herr A. teilt der Mitarbeiterin mit, dass er nach dem Besuch der
Seniorentagesstätte wieder an der Strasse vor dem Wohnheim sitzen wolle, um zu
schauen, und dass er gerne eine Decke für die Beine hätte. Die Mitarbeiterin
setzt sich kurz dazu und es werden Herrn A. die Ergebnisse der letzten
Dienstbesprechung, die seine ‚Zu- Bett- geh- Zeit‘ betreffen, mitgeteilt. Gegen
13.30 Uhr wird er für den Besuch der Seniorentagesstätte angezogen, in den
anderen Rollstuhl gesetzt und nach draußen gefahren .
Nachmittag
in der Seniorentagesstätte
Bei meiner Ankunft sitzt Herr A. mit einigen anderen
SeniorInnen im Flur und wartet darauf, in Empfang genommen zu werden. Ich
schenke ihm eine versprochene Videokassette über einen Theaterauftritt, bei dem
er mitgewirkt hat. Er trägt eine für den heutigen Tag etwas dünne Jacke. Da die
MitarbeiterInnen noch mit dem Empfang der anderen BewohnerInnen beschäftigt
sind und es mir unangenehm ist, mit Herrn A. im Flur zu warten, helfe ich ihm
aus der Jacke. Er möchte an seinem Bild weiter malen und so frage ich die
Mitarbeiterin, ob es in Ordnung sei, Herrn A. an seinen Malplatz zu fahren. Es
gibt keine anderen Pläne und so beginnt Herr A. sogleich mit dem Malen. Er ist
nicht sehr gesprächig und malt mit hoher Konzentration. Häufig dreht er das
Blatt, um auch alle Seitenränder bemalen zu können. Er bittet mich, zwei Stifte
anzuspitzen und heruntergefallene Stifte wieder aufzuheben. Die Sonne hat sich
mittlerweile soweit gedreht, dass sie ihm ins Gesicht scheint. Noch sind keine
Jalousien angebracht und Herr A. bittet mich, seinen Rollstuhl so zu stellen,
dass die Sonne ihn nicht mehr blendet. Ich nutze die Zeit, in der Herr A. an
seinem Bild malt zu einem Gespräch mit der Mitarbeiterin über das Konzept der
Seniorentagesstätte. Wir bleiben dazu im Raum sitzen, sodass alle mithören und
sich beteiligen können. Gegen 15.00 Uhr wird das Kaffeetrinken vorbereitet und
die Mitarbeiterin bittet Herrn A. das Bild zu beenden. Ich frage ihn noch mal
nach dem Titel. Nun heißt es ‘Engel mit einem Blumenstrauß und mit einer
Mütze‘. Ich bitte Herrn A., eine Kopie des Bildes als Deckblatt in meine Arbeit
nehmen zu dürfen. Herr A. ist einverstanden. Da die Mitarbeiterin mit dem
Ausfüllen meines Fragebogens beschäftigt ist, helfe ich an ihrer Stelle beim
Ausschenken des Kaffees mit. Ich frage Herrn A., wo sich hier die Schürzen befinden,
die er beim Essen umbindet. Er weiß es nicht, aber ich finde sie nach kurzem
Suchen selbst im Regal. Herr A. weist mich darauf hin, dass ich ihm die Schürze
nicht richtig umgebunden habe und sie sich gelöst hat. Nach dem Kaffeetrinken
wird Herr A. zur Toilette gebracht, danach angezogen und in den Flur zum
Abholen gebracht. Gegen 15.30 Uhr wird er von einem Zivildienstleistenden
abgeholt.
‚Feierabend‘
Um 16.00 Uhr treffe ich Herrn A. an der Strasse vor seinem
Wohnhaus sitzend an. Er beobachtet die Vorgänge und genießt das warme Wetter.
Ich setze mich auf eine Bank in der Nähe und beobachte das Geschehen. Herr A.
amüsiert sich offensichtlich über einen Bewohner, der mit einem laufenden
Kassettenrekorder vorbei kommt. Herr A. wiederholt den Text des Liedes. Auf
eine Ansprache durch eine Passantin, die er wohl kennt, erfolgt keinerlei
Reaktion. Mir selbst wird kühl und ich frage Herrn A., der nur mit einer dünnen
Jacke bekleidet an der Strasse sitzt, ob ihm nicht kalt sei. (Er hat nicht, wie
es abgemacht war, eine Decke dabei). Herr A. bittet mich daraufhin, ihn ins
Haus zu schieben. Da die Tür vor dem Fahrstuhl besetzt ist, schlägt er vor, um
das Haus herum zu fahren und den Haupteingang zu benutzen. Auf der Gruppe helfe
ich ihm aus der Jacke und fahre ihn ins auf seinen Wunsch hin ins Esszimmer.
Ein Mitarbeiter stellt Herrn A. ein paar Kekse hin, Kaffee
möchte er nicht. Herr A. verwickelt mich in ein Gespräch über die Musikgruppe
und die künftige Arbeit des Freizeitzentrums. Ich nutzte die Zeit, um ihm die Frage zu stellen, was für ihn Arbeit
bedeutet. Arbeiten mache er nicht, gibt er mir zur Antwort, nur
Beschäftigungen. Auf die Frage, was das für ihn sei, nennt er, ‚Spülmaschine
ausräumen‘ und ‚Samstags die Post
austragen‘. Dies ist für ihn wichtig, weil er dann ‚auf die anderen Gruppen‘
geht. Auf meine Frage, was denn richtige Arbeit sei, nennt er die Tätigkeiten
der Mitarbeiter wie z.B. ‚Leute baden, auf’s Klo bringen und so‘. Früher habe
er auch gearbeitet und Holz geschliffen. Bei der Frage, was für ihn Freizeit
sei, nennt er als erstes seinen einwöchigen Jahresurlaub, in dem er eine Reise
machen kann. Dann erwähnt er noch das Theaterspielen und dass er so etwas mit
mir ja schon einmal gemacht habe.
Unter Selbsthilfe kann er sich nicht viel vorstellen, aber
er findet es wichtig, dass ihm geholfen wird bei Dingen, die er nicht mehr
alleine machen kann. Auf meine Frage, was er noch alleine machen könne,
antwortet er ‚Malen‘ und ihm fällt ein, dass er mir vor einigen Jahren einmal
ein Bild zum Geburtstag gemalt hat.
Auf die Frage, was ihm bei der Pflege durch die Mitarbeiter
wichtig ist, nennt er als erstes, dass der Mitarbeiter sich mit ihm unterhalten
soll, auch hier zählt er das auf, was er noch alleine machen kann. Auch dass er
sich ausruhen kann ist ihm erwähnenswert. Dann frage ich ihn noch, wie er das
nennt, wenn er Herrn F. beim Laufen hilft. Er ist darauf recht stolz, dass er
durch seine Mithilfe die Mitarbeiter entlasten kann. Zum Abschluss frage ich
ihn noch nach seiner Schulbildung. Er sei nur zwei Jahre zur Schule gegangen
und habe dort nur Malen gelernt. Als Erwachsener habe ein Mitarbeiter ihm
einige Buchstaben in grosser Schrift beigebracht. Wichtig ist ihm noch, seine
Mitgliedschaft im ‚Mundharmonika - Chor‘ zu nennen, dem er bereits seit vielen Jahren angehört. Wie lange, kann er
nicht sagen, das sei ja alles aufgeschrieben.
Mittlerweile hat sich im Gruppenraum eine schläfrige
Stimmung breit gemacht. Es ist 17.30, der Fernseher läuft, ein Bewohner ist
eingeschlafen, ein anderer gähnt, ein Dritter brummelt laut vor sich hin. Herr
A. schaut gelegentlich zum Fernseher, kann aber von seinem Platz aus nichts
sehen, richtig fernsehen möchte er aber auch nicht. Ein Mitarbeiter hat Kaffee
gekocht. Ich frage Herrn A., wie er das Nichtstun jetzt bezeichnet? ‚Ich bin
faul,‘ gibt er mir zur Antwort. Ein Bewohner schäkert mit einer Mitarbeiterin,
alle lachen. Dann bringt sie Herrn A. zur Toilette. Es wird Zeit, zum
Freizeitzentrum zu gehen, wo Herr A. heute an einer Musikgruppe teilnimmt. Die
Mitarbeiterin schiebt Herrn A. in seinem Rollstuhl, wir gehen zu Fuß. In der
Musikgruppe spielt Herr A. die Trommel und wechselt eigenständig die Tempi und
Lautstärken, je nach Charakter des Liedes. Meine Anwesenheit veranlasst meinen
Kollegen zu einigen Scherzen und es wird eine lustige Stunde. Immer wieder
schaut Herr A. zu mir rüber und passt auf, dass ich alles aufschreibe. Bei
einem der Liebeslieder spielt Herr A. mit sehr viel Gefühl mit, dass es meinem Kollegin und mir sofort auffällt und
für uns beide Anlass zu einem neckischen Kommentar gibt. Herr A. ist
unermüdlich bei der Sache. Auf dem viertelstündigen Rückweg unterhalte ich mich
mit der Mitarbeiterin, da eine Unterhaltung mit Herrn A. bei dem schnellen
Tempo zu schwierig ist. Die Mitarbeiterin ist froh, dass Herr A. nicht in
seinem adaptierten Rollstuhl sitzt, der recht schwer zu schieben ist.
Um 19.15 Uhr sind wir wieder auf der Gruppe angelangt. Herr
A. nutzt eine kurze Begegnung mit mir im Flur, drückt mir die Hand und bedankt
sich bei mir dafür, dass ich den Bewohnern immer Freude mache. Ich bin gerührt
und überrascht. Dann äußert Herr A., dass er Hunger habe. Er möchte sich nun
sein Geburtstagsessen von einem Bekannten holen, bei dem er zur Feier
eingeladen war. Da es ihm wichtiger war, zur Musikgruppe zu fahren, hatte er
sich das Essen warm stellen lassen. Während der diensthabende Mitarbeiter das
Essen organisiert gratuliert Herr A. Herrn H. – G., der gerade in das Foyer
herunter kommt, zum Geburtstag. Bei dieser Aktion bin ich etwas behilflich, da
Herr H.-G. blind ist. Herr A. hat nicht mitbekommen hat, dass der Mitarbeiter
bereits das Essen holt und es gibt eine kleine Konfusion, da nun auch die
andere Mitarbeiterin das Essen holen möchte. Ich kann die Missverständnisse aufklären
und Herr A. fährt ins Esszimmer. Die anderen haben schon gegessen und sitzen
vor dem Fernseher, der so laut gestellt ist, das man sich kaum unterhalten
kann. Ein Bewohner steht am Tresen der Küche und fragt, ob ich all die vielen
Seiten für die Schule schreibe und ob das ein Tagebuch über das Baden sei. Nach
dem Abendessen nimmt Herr A. sich selbst die Schürze ab und versucht, ein
Taschentuch aus einer Schublade zu holen, um sich den Mund abzuwischen. Da er
es ganz alleine nicht schafft, helfe ich etwas mit. Dann fährt er ins Foyer, wo
sich die beiden blinden Männer Herr F. und Herr H.- G. bereits angeregt
unterhalten. Bevor Herr A. sich dazu setzt, korrigiert er selbst noch mal seine
Sitzhaltung im Rollstuhl mit Hilfe des Handlaufs im Flur. Es klappt erst nach
mehreren Anläufen. Herr A. macht sich bei Herrn F. durch einen leichten Schlag
auf die Hand bemerkbar. Es folgt eine lange Unterhaltung hauptsächlich zwischen
Herrn F. und Herrn H.-G., in die Herr A. immer wieder versucht einzusteigen.
Herr F. geht auch immer wieder mal kurz auf Herrn A. ein, aber Herr H.- G., der
sehr schwerhörig ist, bringt das Gespräch immer wieder auf seine Themen. Er
regiert ärgerlich, als er merkt, dass Herr F. auch auf Herrn A. eingeht und
zieht das Gespräch wieder an sich. Herr F. lässt sich dann ganz auf Herrn H.-
G. ein. Herr A. hört zu. Um 20.30 Uhr fragt Herr A. mich, wie lange ich bleibe.
Ich antworte ihm, dass ich solange bliebe, bis ich mit ihm fertig sei. Er
entgegnet, dass er um 21.00 Uhr ins Bett ginge und ich dann nach Hause gehen
könne. Das Gespräch zwischen Herrn F. und Herrn H.- G. geht noch etwa eine
Viertelstunde weiter, bis Herr F. den Wunsch äußert ins Bett zu gehen. Er ruft
nach Herrn A., der wieder etwas zurück fährt, um Herrn F. mitzunehmen. Herr A.
fährt auf sein Zimmer und beginnt, sein Gebiss zu reinigen. Er bittet mich, ihm
beim Ausziehen zu helfen, aber ich erkläre ihm , dass das nun der Mitarbeiter
machen würde und dass ich nun nach Hause gehen würde. Ich verabschiede mich und
fahre mit dem Gefühl nach Hause, einen sehr langen Tag hinter mich gebracht zu
haben. Ich bin erstaunt über die Energie, die Herr A. hat und darüber, dass er
trotz seiner 73 Jahre einen so langen Tag ohne einen Mittagsschlaf durchhält.
Ich habe den Eindruck, dass Herr A. einen erfüllten, für ihn
vermutlich befriedigenden Tag erlebt hat, in dem er zwar auf die Hilfe anderer
angewiesen war, aber den er durch seine Persönlichkeit und seine Wünsche
entscheidend mit geprägt hat. Ein Tag, an dem er sich ‚betätigt‘ hat, den er in
einigen Bereichen selbst bestimmen konnte und der überwiegend auf seine
Bedürfnisse abgestimmt war. Leider sind solche Tage wie dieser nicht immer für
ihn möglich, da es zunehmend schwieriger wird, einen Mitarbeiter abzustellen,
um ihn zu besonderen Freizeitaktivitäten wie der Musikgruppe zu begleiten. Wie
wichtig ihm solche Aktivitäten sind, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er
das Musizieren immer wieder in den Gesprächen mit mir thematisiert. Ich bin
dankbar für diesen Tag mit Herrn A., der mich einen tiefen Einblick in sein
Leben hat nehmen lassen, ein Leben, einerseits
geprägt durch einen starken Willen und
Eigeninitiative, andererseits durch eine hohe Sensibilität gegenüber den
Bedürfnissen anderer, was mir besonders in seiner subtilen Beziehung zu Herrn
F. sehr deutlich wurde, wo diese beiden Männer in einer jahrzehntelangen
Freundschaft gelernt haben, auf die jeweiligen Behinderungen in einer so
diskreten Weise Rücksicht zu nehmen, wie ich es sehr selten gesehen habe.
3.5 Ein Tag im Leben des Herrn B.
Morgens
in Haus B.
Der Tag beginnt für Herrn B. bereits morgens um 6.00 Uhr,
wenn ihm über seine Sonde die Medikamente verabreicht werden. Meistens schläft
er dann noch. Als ich um 7.00 Uhr komme, ist ein Mitarbeiter mit der Pflege von
Herrn B. betraut, der normalerweise auf einer anderen Gruppe arbeitet und ein
wenig irritiert über meinen Besuch ist. Nach einem kurzen Gespräch über den
Zweck meiner Beobachtungen willigt er dann in die Beobachtungen ein. Herr B.
muss vollständig gepflegt werden, er kann selbst nicht dabei mithelfen. Herr B.
schläft beim Waschen, Windeln und Anziehen immer wieder ein. Die beiden
Mitarbeiter, die jeweils einen Bewohner im Zimmer pflegen, unterhalten sich
viel miteinander und stellen auch mir einige Fragen. Bis Herr B. im Rollstuhl
sitzt sind etwa 30 Minuten vergangen. Herr B. hat nur wenige Reaktionen gezeigt
wie Husten und Wegdrehen des Kopfes bei der Mundpflege. Beim Warten im
Wohnzimmer auf das Frühstück, während die anderen BewohnerInnen von den
MitarbeiterInnen fertig gemacht werden, schläft Herr B. wieder ein. Gegen 8.00
Uhr öffnet Herr B. die Augen und fängt an, die Aktivitäten der anderen Menschen
um sich herum zu beobachten. Da Herr B. mittels einer Sonde ernährt wird, nimmt
er auch an den Mahlzeiten nur als Zuschauer teil. Heute hat er wenig Interesse
am Zuschauen und schläft mit abgewandtem Kopf immer wieder ein. Zwischendurch
ist immer wieder einmal ein kurzes Zucken der Augen und Zungenbewegungen zu
beobachten. Ich vermute, dass es sich hierbei um epileptische Anfälle handelt,
die bei ihm in dieser Form auch in der Krankengeschichte beschrieben sind.
Um 8.15 Uhr werden einige der BewohnerInnen zur Schule
abgeholt. Herr B. wird in den Wohnraum geschoben und schläft dort wieder ein.
Als eine Mitarbeiterin ihn anspricht, Körperkontakt durch Reiben seiner Knie
mit ihm aufnimmt, öffnet er die Augen, wendet ihr den Kopf zu, strahlt sie an
und gibt Geräusche von sich. Er zeigt erstmals an diesem Tag eine deutliche
Reaktion. Nun bleibt Herr B. wach, beobachtet die Vorgänge im Raum bis ihn
gegen kurz vor 9.00 Uhr zwei Zivildienstleistende zur Werkstatt abholen. Beim
Verladen in den Kleinbus erwidert Herr B. zum erstenmal an diesem Tag meinen
Blickkontakt.
Vormittag
in der Werktherapie in Haus Wt.
Bei meiner Ankunft in der Werktherapie sehe ich wie Herr B.
von einer Praktikantin in Empfang genommen und begrüßt wird. Ich selbst führe
zunächst ein Gespräch mit der Mitarbeiterin der Gruppe, die wenig informiert
über mein Vorhaben war. Die Informationen aus dem Vorgespräch waren wohl in
erster Linie an die an diesem Tag erkrankte Mitarbeiterin weitergegeben worden.
Die Mitarbeiterin war jedoch sofort mit meinem Vorhaben einverstanden. Einige
der behinderten MitarbeiterInnen sind mir aus meiner Arbeit bekannt und so
fällt es mir leicht, einen zwanglosen Kontakt zur Arbeitsgruppe herzustellen.
Herr B. verbringt seinen ‚Arbeitstag‘ in der Korbflechterei, wo in erster Linie
Stühle repariert werden. Diese Arbeit ist handwerklich recht anspruchsvoll und
so handelt es sich bei den dort arbeitenden Bewohnern um Menschen, die über
recht viele Fähigkeiten verfügen. Herr B. ist ebenso wie Herr T., ein anderer
schwerbehinderter Bewohner aus Haus B. ein ‚teilnehmender‘ Mitarbeiter. Dies
ist konzeptionell in dieser Einrichtung ein recht neuer Ansatz, Menschen mit
sehr schweren Behinderungen eine weitergehende Integration zu ermöglichen. Sie
sollen durch ihr ‚Dabeisein‘ am leben der Gemeinschaft teilhaben. Ein
produktiver, aktiver Beitrag mit einem wirtschaftlich verwertbaren Ergebnis
kann aufgrund der Schwere der Behinderung dieser Menschen nicht erwartet
werden. So gestaltet sich der Vormittag in der Werktherapie bei Herrn B. aus
den Elementen Beobachtung und Teilhabe als seiner ‚Arbeit‘, sowie den notwendigen
Pflegemaßnahmen wie Wickeln und Lagern und aus Zeiten der Einzelförderung, die
in einem mit täglich wechselnden Inhalten gemäss einem Wochenplan. Jedesmal
wenn Herr B. von der Mitarbeiterin angesprochen wird, erwidert er den
Blickkontakt, strahlt und wendet ihr seinen Kopf zu. Zwischendurch schließt
Herr B. immer wieder die Augen.
In der Frühstückspause übernehmen behinderte BewohnerInnen
den Transport von Herrn B. in den Pausenraum. So wird der Kontakt gefördert.
Nach der Frühstückspause beginnt die Einzelförderung, für die zusätzliche
Personalanteile in der Gruppe genehmigt wurden. Herr B. wird dazu auf einer
eigens im Arbeitsraum aufgestellten hüfthohen Liege gelagert. Die Mitarbeiterin
massiert Herrn B. mit einem Massagegerät und unterhält sich mit ihm. Herr B.
genießt dies ganz offensichtlich und hält den Blickkontakt zu ihr. Dies dauert
etwa 20 Minuten. Danach wird Herr B. auf der Liege gelagert, beobachtet eine
Weile das Geschehen und schläft dann ein. Ich nutze die Zeit für ein Gespräch mit
den anderen BewohnerInnen, bis die Mitarbeiterin Herrn B. windelt und zum
abholen fertig macht. Immer wieder kommentiert sie dabei ihr eigenes handeln
und tritt auf diese Weise in einen verbalen Kontakt zu Herrn B., der diesen
Kontakt durch Blicke und vereinzelte Laute erwidert. Gegen 11.30 Uhr wird er
vom Fahrdienst abgeholt.
(In
der Zeit von 11.30 bis 12.00 Uhr findet
keine Beobachtung statt, da ich ein Abschlussgespräch mit der Mitarbeiterin
führe.)
Mittag
in Haus B.
Um 12.00 Uhr werden alle BewohnerInnen der Gruppe zum Essen
versammelt. Auch Herr B. wird wieder dazu geschoben. Die Mitarbeiterin streicht
etwas von dem Nachtisch (Eis) auf die Zunge von Herrn B,. um ihm so einen
taktilen Reiz zu verschaffen und ihn auch am Genuss des Essens zu beteiligen.
Herr B. dreht nach meiner Beobachtung an diesem Tag erstmals den Kopf nach
rechts über die Mittellinie hinaus und lacht. Dann verfolgt er mit seinem Blick
einen laut herum schreienden Bewohner. Mein Eindruck ist, dass er um so
intensiver reagiert, je stärker die Reize sind. Er reagiert mit Lachen auf den
Körperkontakt durch eine Mitarbeiterin, die ihn auf dem Bauch rubbelt.
Nach dem Mittagessen räumen die MitarbeiterInnen auf, Herr
B. schaut zu und wird zwischendurch immer wieder mal kurz angesprochen. Herr B.
hält seine Augen offen und ich habe den Eindruck, dass er aktiv das Geschehen
im Raum verfolgt und auch den Kopf in
die Richtung der handelnden Personen dreht. Seine Sondennahrung wird
ausgewechselt und die Medikamente für ihn vorbereitet. Die Mitarbeiterin lagert
ihn im Wohnbereich auf seiner Liege und wechselt die Windeln. Sie kommentiert
ihr Handeln. Eine zweite Mitarbeiterin nimmt kurzen Körperkontakt zu Herrn B.
auf, er lacht. Die Mittagsmedikation wird ihm durch die Sonde verabreicht. Danach
erfolgt wieder Mundpflege. Anders als am Vormittag reagiert er diesmal mit
Lachen und Strahlen auf die Zahnbürste und die Zitronenstäbchen. Dann wird er
seitlich gelagert, und um ihm in der Mittagspause eine Anregung zu geben,
stellt die Mitarbeiterin ein riesiges Bilderbuch vor Herrn B. auf.
(Gegen
12.50 Uhr verlasse ich die Gruppe, um Einsicht in die Akten in der Werktherapie
zu nehmen.)
Nachmittag
und Abend in Haus B.
Als ich gegen 16.15 Uhr wieder in die Gruppe komme, sitzt
Herr B. bereits wieder in seinem Rollstuhl.
Da noch ein zweiter Mitarbeiter an diesem Nachmittag auf der Gruppe ist,
schlägt die Mitarbeiterin einen Spaziergang vor. So nehmen wir zwei
RollstuhlfahrerInnen und eine gehfähige Bewohnerin mit und gehen hoch zum Wald.
Etwa eine Stunde lang laufen wir durch den Ort und den angrenzenden Wald auf
zum Teil recht matschigen Wegen. Den Bewohnern macht es offensichtlich Spaß,
zumal es die ersten wärmeren und sonnigen Tage in diesem Frühjahr sind. Am Ende
des Spazierganges strahlt Herr B. auch mich erstmals intensiv an, worüber ich
mich sehr freue. Die Reifen der beiden Rollstühle müssen abgewaschen werden,
bevor wir wieder in die Gruppe fahren und ich beteilige mich an der Arbeit. Ich
merke, wie es mir zunehmend schwerer fällt, mich auf meinen Beobachterposten
zurückzuziehen, weil das, was ich bei Herrn B. an Aktivitäten beobachten kann,
sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen lässt. Das Geschehen findet um ihn
herum, als Alltagshandlungen in seiner Umwelt statt. Herr B. kann lediglich
entscheiden, ob er dieses Geschehen auf sich einwirken lassen will, oder ob er
lieber ‚abschaltet‘ und einschläft. Während und auch nach dem Abendessen
beobachtet Herr B. die Aktivitäten der Personen in seiner Umgebung. Er wird
jedoch zunehmend müde und beginnt zu gähnen. In den Wohnraum geschoben schaut
er nicht zum Fernseher, obwohl Herr B. so steht, dass er zur bevorzugten Seite
nach links schauen könnte. Sein Kopf ist im Gegenteil nach rechts gedreht und
nach hinten überstreckt. Eine Mitarbeiterin nimmt Herrn B. aus dem Rollstuhl
und setzt ihn zu sich auf den Schoss auf dem Sofa. Herr B. strahlt und lacht.
Beim Verabreichen der Medikamente durch die Sonde macht er Kaubewegungen. Ich
unterhalte mich ein wenig mit der Mitarbeiterin. Herr B. genießt diesen 10 minütigen
Moment des intensiven Körperkontaktes offensichtlich. Nachdem er in den
Rollstuhl zurück gehoben wurde, schaut er in den Fernseher. Kurze Zeit später,
es ist mittlerweile 19.00 Uhr wird er zu Bett gebracht. Die Mitarbeiterin
kommentiert dabei all ihr Handeln und bemerkt auch Herrn B. ‘s zunehmende
Verspannung, aus der er sich selbst nicht aktiv lösen kann. Auch mein Versuch,
einige Griffe aus der Bobath - Behandlung anzuwenden, bleiben erfolglos. Auf
die Mundpflege reagiert Herr B. diesmal wieder mit Ablehnung. Die Mitarbeiterin
bemerkt, dass Herr B. dies gar nicht möge, woraufhin ich ihr erzähle, dass es
am Mittag ganz anders gewesen sei. Es bleibt unklar, woran das liegt. Herr B.
stöhnt und einige Tränen laufen über sein Gesicht. Die Mitarbeiterin äußert
ihre Betroffenheit darüber. Sie stellt leise meditative Musik an und stellt ein
visuell stimulierendes Spielzeug vor ihn auf den Nachttisch. Herr B. wurde gut
gelagert und beginnt zusehends sich zu entspannen, er wird schläfrig und die
Augen beginnen zuzufallen. Ich verabschiede mich von ihm und verlasse den Raum
gegen 19.30 Uhr.
An diesem Abend fühle ich mich auf eine andere Weise müde,
als zuvor bei den Beobachtungen von Herrn A. Es waren hier eher die vielen
Zeiten des Wartens, in denen nicht viel geschah, die mich schläfrig machten und
es mir schwer viel, nur zuzusehen, ohne aktiv werden zu können. Ich empfand es
als ziemlich unnatürlich, im Wohnzimmer alleine mit Herrn B. zu sitzen und
‚nichts‘ zu protokollieren, weil ‚nichts‘ geschah. Im Gegensatz dazu waren die
Momente erträglich, in denen wir spazieren gingen, in denen ich einige
Handgriffe beim Tisch decken erledigte oder in denen Gespräche mit den
MitarbeiterInnen stattfanden. Obwohl Herr A. und Herr B. beide als Menschen mit
schweren Mehrfachbehinderungen bezeichnet werden, liegen Welten zwischen ihrer
Lebensweise.
3.3
Betätigungskategorien von Herrn A.
Die in den Beobachtungsbögen in der Spalte ‚Aktivität‘ spontan
von der Autorin verwendeten prägnanten Begriffen wurden als erster Anhaltspunkt
für eine Kategorienbildung hinsichtlich des Betätigungsverhaltens von Herrn
A. verwendet. Die jeweiligen
Beobachtungen gaben weitere Hinweise, um eine Tätigkeit eindeutiger
festzulegen. In einer Übersicht (vergl. Anlage 6.A und 6.B) wurden die
einzelnen Beobachtungssequenzen analysiert hinsichtlich der Bezeichnungen für
die einzelnen Aktivitäten. Diese Aktivitäten wurden neun Kategorien zugeordnet,
die im Folgenden beschrieben werden. Eine ungefähre zeitliche Dauer der
einzelnen Tätigkeiten wurde ermittelt, um eine grobe Übersicht zu erhalten,
wieviel Zeit Herr A. im Laufe eines Tages mit den unterschiedlichen Aktivitäten
verbringt. Ebenso wurde unterschieden zwischen Tätigkeiten, bei denen Herr A.
selbst aktiv handelt und solchen, bei denen er passiv ‚behandelt‘ wird. In
einer weiteren Spalte wurde festgehalten, bei welchen Aktivitäten Herr A.
verbal beteiligt ist.
Im Wohnbereich verwendete die Autorin folgende Begriffe:
-
‚Pflege‘ für Tätigkeiten, die in den
Bereich der Selbstversorgung fallen, hierzu gehören Waschen, Körperhygiene,
Anziehen, Toilettengang, sowie die
medizinische Versorgung,
-
‚Transport‘ für Wege, die er alleine
oder mit Hilfe im Rollstuhl oder im Bulli zurück legt,
-
‚Mahlzeit‘ für die Haupt- und
Zwischenmahlzeiten,
-
‚Freizeit - Nichtstun‘ für Zeiten, in
denen Herr A. keiner besonderen Tätigkeit nachgeht, sondern wartend oder
beobachtend in seinem Rollstuhl sitzt, hierunter wurde auch die Zeit der seiner
Beobachtungen am Straßenrand gefasst;
-
‚Freizeit - Freundschaft‘ für Zeiten,
die er im Gespräch oder Beisammensein mit anderen Bewohnern, insbes. Mit seinem
Freund Herrn F. verbringt,
-
‚Freizeit - Musik‘ für Zeiten, in denen
er aktiv Musik macht, in der Regel mit seiner Trommel.
Bei den meisten Tätigkeiten benötigt er Hilfestellungen ist
aber aktiv mit beteiligt. Seine Aktivitäten im Bereich Freizeit- Freundschaft
kann er fast vollständig alleine initiieren und durchführen.
Es fällt auf, dass bei fast allen Aktivitäten Gespräche
geführt werden. Nur beim Transport im Kleinbus bzw. der Fahrt durch den Ort im
Rollstuhl und vereinzelt bei den Mahlzeiten finden so gut wie keine Gespräche
statt.
In der Zeiterfassung (vergl. Anlage 6.3 Tabelle 1) wird deutlich, dass Herr A. etwa
ein Drittel seiner Zeit in der Wohngruppe mit unterschiedlichen
Freizeitaktivitäten verbringt. Für Pflege und Transport werden täglich jeweils
gut zwei Stunden aufgewendet, für die Mahlzeiten etwa eineinhalb Stunden.
Im Seniorenbereich kommen zu den bereits oben genannten
Kategorien noch die drei Kategorien ‚Freizeit – Spiel‘, ‚Freizeit- Malen‘ und
‚Gespräch- Besprechung‘ hinzu. Die Kategorie ‚Freizeit- Freundschaft‘ wurde
hier nicht gewählt. Hierbei hat die Autorin folgende Betätigungen diesen neuen
Kategorien zugeordnet:
-
‚Freizeit- Spiel‘ bezeichnet die Zeit,
in der er mit seinem Freund Herrn F. Mensch- ärgere- dich- nicht spielt. Diese
Aktivität könnte ebenfalls auch der Rubrik ‚Freizeit- Freundschaft‘ zugeordnet
werden, wenn sie mehr unter dem Beziehungsaspekt als unter dem Aktionsaspekt
betrachtet würde.
-
‚Freizeit- Malen‘ bezeichnet die
produktive Tätigkeit des Herrn A., ein Bild zu erstellen.
-
‚Gespräch- Besprechung‘ bezeichnet die
Momente, in denen in der Regel die MitarbeiterInnen Gespräche über bestimmte
Themen initiieren oder die Tagesgestaltung besprechen.
Bei der Betrachtung der Selbständigkeit fällt auf, dass er
häufiger eigenständig handelnd seine Zeit verbringt und durch den geringen
Anteil an Pflege weniger oft ‚behandelt‘ wird. Aber auch hier ist sein Handeln
fast durchgängig von Gesprächen begleitet.
In der Seniorentagesstätte verbringt Herr A. die meiste
Zeit, mehr als ein Drittel, mit Malen,
aber auch immerhin knapp eine Stunde mit Gesprächen und Besprechungen (vergl.
Anlage 6. 3 Tabelle 2). Die anderen Aktivitäten verteilen sich auf die zweite
Hälfte der verfügbaren Zeit. Auffällig ist, dass die Zeit des Nichtstuns hier
nur etwa 2% beträgt.
Fasst man die Aktivitäten von Herrn A. zusammen, indem alle
unterschiedlichen Freizeitaktivitäten unter dem Begriff ‚Freizeit‘ subsummiert
werden und ergänzt man die Tabelle um die Zeit, die er mit Schlafen verbringt,
so ergibt sich die Übersicht über die Tätigkeiten von Herrn A. im Laufe von 24
Stunden (vergl. Anlage 6.3 Tabelle 3). Er zeigt hierbei ein recht ausgewogenes
Profil mit 36% Schlaf, 28% Freizeit und weiteren 36% in den Bereichen Pflege,
Transport und Mahlzeiten. (Zum Vergleich: In der Berliner Altersstudie wird für
die Gruppe der 70- 84 jährigen Männer ein Anteil von 42% der Wachphase für
Freizeitaktivitäten ermittelt und etwa 36% für die Selbstversorgung. Ruhezeiten
während des Tages machen dort etwa 12% aus (BALTES M. M. et al.1999, 530)).
3.4.
Betätigungskategorien von Herrn B.
Für die Einteilung der Betätigungen von Herrn B. verwendete
die Autorin nur zum Teil dieselben Kategorien wie bei Herrn A. die Bereiche
‚Pflege‘ und ‚Transport‘ sowie ‚Nichtstun, Warten‘, ‚Spazieren gehen‘ und
‚Schlafen‘ konnten hier eindeutig identifiziert werden. Schwieriger wurde es
mit der Bezeichnung der restlichen Aktivitäten und Kategorien. Diese ließen
sich am ehesten mit therapeutisch / pädagogischen Begriffen beschreiben wie:
‚Blick- Kontakt‘, ‚Körper- Kontakt‘, ‚verbaler Kontakt‘, ‚Taktile Stimulation‘,
‚visuelle Stimulation‘ und ‚Teilhabe- Zuschauen‘. Diese Begriffe und Kategorien
ließen sich sowohl im Wohn- als auch im Arbeitsbereich verwenden.
Bei den letzt genannten Begriffen handelt es sich immer um
Aktivitäten, bzw. Reize, die von den Personen der Umgebung, überwiegend von den
pflegenden MitarbeiterInnen initiiert wurden und auf die Herr B. mit einer
Reaktion antwortete. In fast allen Fällen waren diese Reaktionen positiver Art
und äußerten sich in ‚Strahlen‘ der Augen, Erwidern des Blickkontaktes,
Kopfdrehen, Lachen, Geräuschen und
Lauten. An zwei Stellen, jeweils morgens und abends bei der Mundpflege zeigte
Herr B. Ablehnung durch Verziehen des Gesichtes und Wegdrehen des Kopfes.
Auch hier wurde die jeweilige Dauer der einzelnen Aktivität
grob erfasst, um später daraus ein Zeitverwendungsprofil zu erstellen (vergl.
Anlage 6.6 Tabellen 1-3). Da Herr B. keine ‚Tätigkeiten‘ im Sinne produktiver
Aktivitäten durchführen kann, wurde unter dem Begriff ‚Aktivität‘ erfasst, ob
Herr B. in einer für die Autorin erkennbaren Weise auf die Umgebung reagiert
hat. In den ‚Wachphasen‘ des Herrn B. sind solche Aktivitäten deutlich
erkennbar und äußern sich in den oben aufgeführten Reaktionen.
In der Rubrik ‚Ansprache‘ wurde die Häufigkeit (26 x)
registriert, mit der Herr B. von den Personen seiner Umgebung angesprochen
wurde. Ein Gespräch im eigentlichen Sinne konnte nicht dokumentiert werden, da
Herr B. sich verbal nicht äußern kann, sondern lediglich durch Laute Freude
oder Kummer auszudrücken imstande ist. In der Rubrik ‚Gespräch‘ wurde die
Häufigkeit (28 x) ermittelt, in der MitarbeiterInnen sich in Gegenwart von
Herrn B. miteinander unterhalten haben, sodass Herr B. an diesem Gespräch als
Zuhörer teilhaben konnte.
Wertet man die Aktivitäten des Herrn B. im Laufe eines Tages
unter Einbeziehung der nächtlichen Ruhephase aus (vergl. Anlage 6.6. Tabellen
4-6) so stellt man sofort fest, dass er einen erheblichen Anteil seiner Zeit,
nämlich insgesamt 64%, d.h. 15 ¼ von 24
Stunden mit Schlafen oder Ruhen verbringt. Der direkte Anteil an Pflege liegt
mit 2 Stunden täglich bei 8%. Zeiten
für Transport schlagen mit 1 ¼ Stunden zu Buche. Er verbringt etwa 12% seines
Tages, d.h. knapp 170 Minuten mit dem Beobachten von Aktivitäten anderer
Menschen und hat somit Anteil an deren Leben. Bei dem Spaziergang handelte es
sich um eine nicht alltägliche Aktivität, die etwa eine Stunde in Anspruch
nahm. Die restliche Zeit verteilt sich zu jeweils sehr geringen Prozentsätzen,
insgesamt knapp eine Stunde auf
unterschiedliche Formen des Kontaktes und der Stimulation sowie Zeiten des
Nichtstuns, in denen er in der Regel alleine in einem Raum stand und darauf
wartete, abgeholt zu werden (knapp 40 Minuten).
Aus dieser Aufstellung wird schnell deutlich, wie sehr sich
das Leben des Herrn B. von dem des Herrn A. unterscheidet. Herr A. ist in der
Lage, das einzufordern, was ihm für sein Leben wichtig erscheint und ermöglicht
sich so die Verwirklichung zahlreicher von ihm gewünschter Aktivitäten. Herr B.
hingegen ist vollständig darauf angewiesen, dass die MitarbeiterInnen und die
Personen seiner Umgebung auf ihn zugehen und Dinge für und mit ihm machen, von
denen sie annehmen, dass sie ihm gut tun. Seine Reaktionen zeigen manchmal, ob
das, was man mit oder für ihn getan hat, ihm gefallen hat.
Handelt es sich nun bei den bei Herrn B. und Herrn A.
beobachteten ‚Aktivitäten‘ um ‚Betätigungen‘ im Sinne ergotherapeutischer
Definitionen? Diese Frage soll im nächsten Kapitel beantwortet werden.
Im 1. Kapitel im 2. Abschnitt wurden mehrere Kriterien
genannt, die Voraussetzung dafür sind, dass eine Aktivität als
‚Betätigung‘ bezeichnet werden kann. So
gilt es nun die Fragen zu beantworten,
1. ob
Herr A. und Herr B. ein Ziel oder eine Absicht mit ihren Betätigungen
verfolgen?
2. ob
ein Zusammenhang besteht zwischen den Aktivitäten und der Umwelt, in der die
Aktivität stattfindet?
3. ob
die Aktivitäten von den Ausführenden benannt und identifiziert werden können
und
4. ob
die Aktivitäten für Herrn B. und Herrn A. von Bedeutung sind?
Da es nicht möglich ist, alle beobachteten Aktivitäten von
Herrn A. und Herrn B. auf diese Fragen hin zu untersuchen, sollen in den
folgenden Abschnitten einzelne Aktivitäten als Beispiele herangezogen werden.
4.1
Ziele und Absichten der beobachteten
Aktivitäten
Bei
Herrn A. ist bei den meisten Aktivitäten ein klares Ziel oder eine Absicht zu erkennen:
er rückt sich im Rollstuhl zurecht, um besser sitzen können; er hilft bei
seiner Pflege mit, weil es ihm ein Gefühl von Selbständigkeit gibt; er hilft seinem blinden Freund beim Gehen,
um die Mitarbeiter zu entlasten; er malt ein Bild und spielt Trommel, weil es
ihm Spaß macht. Herr A. hat selbst Ziele und Absichten, die er formulieren kann
und für deren Realisierung er sich einsetzt. Für seine Aktivitäten können
eindeutige Ziele und Absichten benannt werden.
Schwieriger ist die Beantwortung dieser Frage bei Herrn B..
Auf den ersten Blick äußert er keine Ziele und Absichten. Er sagt nicht, dass
er spazieren gehen will. Er schreit nicht, wenn er Hunger hat. Ziele und
Absichten werden stellvertretend für ihn von den MitarbeiterInnen formuliert.
Sie wissen aus Erfahrung, wann Herr B. gewindelt werden muss. Die Zeiten für
die Medikamente und das Wechseln der Sondennahrung sind festgelegt. Am
eindeutigsten lässt sich noch Ablehnung und mangelndes Wohlbefinden bei Herrn
B. feststellen. Wenn ihm etwas nicht gefällt, so kann Herr B. das Gesicht
verziehen, den Kopf wegwenden, die Augen schließen, sich verspannen oder auch
weinen. Im Umkehrschluss erkennen die MitarbeiterInnen dann, dass es ihm nicht
gut geht bei dieser Aktivität oder dass ihm etwas fehlt. Andererseits wirken
sein Strahlen, sein Blickkontakt oder sein Lachen als Verstärker für die
MitarbeiterInnen und signalisieren ihnen, dass das, was sie gerade gemacht
haben, Herrn B. gefallen hat. Ist ein Mitarbeiter sensibel für diese Signale,
wird er häufiger das tun, was bei Herrn B. positive Reaktionen auslöst. Auf
diese Weise kann Herr B. ein wenig Einfluss darauf nehmen, wie Menschen mit ihm
umgehen. Welche Aktivitäten für und mit Herrn B. gemacht werden, hängt
wesentlich von der Phantasie, der Zeit und der Erfahrung der MitarbeiterInnen
ab. Für die Autorin stellt sich die Frage, welche Ziele und Absichten Herr B.
für sein Leben hat. Sicherlich sind es andere Ziele als die der meisten
Menschen. Für Herrn B. ist es vermutlich wichtig, wenig Schmerzen zu haben,
sich nicht zu erkälten, seine Muskeln lockern zu können, Zuwendung zu erfahren
und im Rahmen seiner Möglichkeiten am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben. Er
genießt es, „wenn etwas los ist“. Alle Aktivitäten, die helfen, diese Ziele zu
erreichen stellen im weitesten Sinn ‚Betätigungen‘ für Herrn B. dar. Die
Handelnden sind hierbei andere Menschen, die stellvertretend für Herrn B. tätig
werden, um ihm Erfahrungen zu ermöglichen, die vermutlich in seinem Sinne sind.
4.2
Zusammenhänge der beobachteten Aktivitäten
mit dem Umfeld
Das Lebensumfeld von Herrn A. und Herrn B. ist stark
strukturiert und sehr geschützt. Beide leben in Einrichtungen, die was die
Ausstattung betrifft, sehr an die Bedürfnisse von Menschen mit schweren
Behinderungen angepasst sind. Zahlreiche Hilfsmittel, Adaptationen und
Vorrichtungen erleichtern die tägliche Pflege und ermöglichen zumindestens bei
Herrn A. die Erhaltung der Selbständigkeit soweit es noch geht. Alle
Aktivitäten von Herrn A. zeichnen sich durch einen klaren Bezug zu der ihn
umgebenden Realität aus. Viele Handlungen sind routiniert und eingespielt. Herr
A. weiß sehr genau, welche Hilfe er für einzelne Aktivitäten benötigt und setzt
alles daran, diese Hilfe auch zu bekommen. Herr A. ist zielgerichtet in seinem
Handeln muss sich zwangsläufig auf sein Umfeld einstellen. Er bedauert es, dass
manche seiner Wünsche nach Betätigungen nicht umgesetzt werden können, weil
nicht genügend Personal zu Verfügung steht, um ihm alles zu ermöglichen.
Die Aktivitäten von Herrn B. hingegen lassen sich häufig als
‚Reaktionen‘ auf seine Umwelt, insbesondere auf Kontakte durch seine
Mitmenschen bezeichnen. Die begrenzte Umwelt, in der er sich bewegt, wurde zum
Teil auf seine Bedürfnisse hin eingerichtet. Die Liegen im Arbeitsraum und im
Wohnzimmer wurden speziell für ihn errichtet. Somit stehen sie in einem
Zusammenhang mit der ‚Aktivität‘ ‚Ausruhen‘. Aber auch hier ist Herr B. nur
indirekt Handelnder, da andere diese Anpassung der Umwelt an seine Bedürfnisse
für ihn vorgenommen haben. Herr B. hat an seinem Arbeitsplatz beispielsweise
wenig Einfluss auf die Produktivität der Korbflechterei, dennoch wirkt er auf
das Umfeld allein durch seine Präsenz ein, wie sich aus dem Interview mit einer
der behinderten Mitarbeiterinnen schließen lässt (vergl. Anlage 5). Diese
Mitarbeiterin hatte anfangs wenig Verständnis für Herrn B., berichtet sogar,
dass sie ihn ausgelacht habe. Nun freue sie sich, wenn er lacht und sie
anstrahlt. Man müsse ihm helfen. Die Mitarbeiterin kann deutlich machen, dass
in ihr eine Veränderung stattgefunden hat bezüglich ihrer Einstellung zu Herrn
B. Dies ist wohl kaum auf seine Produktivität zurückzuführen, sondern wohl auf
den Beziehungsaspekt, der als eigene Qualität der ‚Aktivität‘ von Herrn B. zu
sehen ist. Offensichtlich bewirkt Herr B. etwas durch seine Präsenz, seine
Hilfsbedürftigkeit, aber auch durch seine strahlenden Augen und sein Lachen.
4.3
Benennung und
Identifikation der Aktivitäten durch die Handelnden
Es war in der Regel kein Problem, die Handlungen und
Aktivitäten von Herrn A. zu identifizieren und zu benennen. Sowohl die Autorin,
als auch die MitarbeiterInnen und Herr A. selbst fanden Begriffe, die das Tun
kennzeichneten. Diese Kennzeichnungen der Handlungen waren in aller Regel
übereinstimmend. Malen, Spielen, Musizieren ließen sich ebenso identifizieren
und benennen, wie Waschen, Anziehen, Essen, Kleinbus- fahren. Unterschiede
bestanden jedoch zum Teil in den Auffassungen, ob es sich bei der jeweiligen
Aktivität um Freizeit, Arbeit oder Selbstversorgung handelte. Diese
Unterschiede sollen im 5. Kapitel noch näher beleuchtet werden.
Das Identifizieren und Benennen von Tätigkeiten bei Herrn B.
war schwieriger. Alltagshandlungen, die die Pflegepersonen ausführten, ließen
sich noch recht leicht und einheitlich als Waschen, Windeln, Anziehen etc.
bezeichnen. Schwieriger wurde es, die teilweise recht subtilen Reaktionen von
Herrn B. im Zusammenhang mit Handlungen anderer Menschen zu sehen und zu
benennen. Am ehesten eignet sich dafür die Bezeichnung 'Reiz- Reaktion‘. Der
Reiz wurde in der Regel durch einen
Mitarbeiter gesetzt, z.B. in Form von Ansprache, Körperkontakt oder
Blickkontakt, auf die eine Reaktion von Herrn B. erfolgte. Diese ‚Aktivitäten‘
waren bis auf die Massage jeweils nur von recht kurzer Dauer, maximal 3 – 5
Minuten. Die MitarbeiterInnen im Wohnbereich erwähnten diese ‚Aktivitäten‘ in
den Fragebögen nur beiläufig und schilderten eher die Pflegemaßnahmen. Anders die
MitarbeiterInnen der Werktherapie, die auch seine Reaktionen auf taktile Reize
vermerken. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass in dieser Abteilung
auch therapeutisch gearbeitet wird und ergotherapeutische Begriffe bekannt
sind. Bei den Aufzeichnungen handelt es sich meist eher um Beschreibungen des
Verhaltens mit Hilfe mehrerer Worte, als um Begriffe, die prägnant eine
Tätigkeit bezeichnen
4.4
Die Bedeutung der Aktivitäten für die Handelnden
Um die Bedeutung der jeweiligen Aktivitäten für die Bewohner
herauszufinden, wurden die MitarbeiterInnen mit Hilfe der Befragungsbögen sowie
Herr A. in einem Gespräch dazu befragt.
Frau R., Mitarbeiterin in der Wohngruppe von Herrn A. hält
eine gute Grundversorgung für wichtig, sodass Herr A. sich wohl fühlt.
Zuwendung und Ansprache, Kontakt hält sie für bedeutsam. Auch Frau S. hält
Kontakt und Beziehungspflege für sehr wichtig und nennt darüber hinaus noch den
Erhalt der Selbständigkeit.
Frau K., Mitarbeiterin in der Seniorentagesstätte hält es
für wichtig, Sinn gebende Beschäftigungen anzubieten, die Freude machen. Eine
ganzheitliche Begleitung, Förderung und Erhaltung seiner Fähigkeiten sowie Spaß
und Entspannung sind für sie wichtige Ziele ihrer Arbeit mit Herrn A. Für Frau
M., ebenfalls Mitarbeiterin in der Seniorentagesstätte ist die Einbeziehung von
Herrn A. in das Gruppengeschehen sowie Freude an der Tätigkeit von Bedeutung.
Tätigkeiten, die diese Anforderungen erfüllen sind nach ihrer Meinung für Herrn
A.: Musik machen, Unterhaltung, Bewegungsübungen, Ausflüge, Spaziergänge,
Kreatives Tun und Backen.
Herr A. selbst äußert bei einer Befragung zu einer Situation
morgens beim Baden, dass es ihm wichtig sei, mithelfen zu können. Bei einem
Gespräch am Tag der Beobachtung nennt er weitere für ihn bedeutsame
Betätigungen wie ‚Spülmaschine ausräumen, Post am Samstag auf die Gruppen
bringen. Bei der Pflege durch die MitarbeiterInnen ist ihm wichtig, dass sich
der Mitarbeiter mit ihm unterhält und er mithelfen kann, dort, wo es noch geht.
Auch das Ausruhen dabei ist ihm wichtig. Während der Beobachtung wies Herr A.
die Autorin dreimal ausdrücklich darauf hin, etwas aufzuschreiben. Das Umsetzen
von einem Rollstuhl in den anderen, seine Hilfestellung für seinen Freund Herrn
F., und das Musizieren sind offensichtlich für ihn besonders wichtige
Tätigkeiten.
Die Konzentration und Präsenz, mit denen Herr A. den ganzen
Tag über seinen Tätigkeiten nachging, erweckten bei der Autorin den Anschein, als
ob alles, was er tat für ihn wichtig und bedeutsam war. Es mag sein, dass die
Tatsache, beobachtet zu werden, zu einer starken Präsenz und Wachheit geführt
haben, jedoch berichteten alle MitarbeiterInnen sowie Herr A., dass dieser Tag
‚so wie immer‘ gewesen sei. Es ist also anzunehmen, dass die Tätigkeiten von
Herrn A. von ihm in der Regel als bedeutsam erlebt werden.
Anders bei Herrn B., die Bedeutungen der einzelnen
Aktivitäten erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Da Herr B. sich nicht
selbst dazu verbal äußern kann, sind die MitarbeiterInnen und die Autorin
darauf angewiesen, Rückschlüsse aus seinem Verhalten zu schließen und dieses zu
interpretieren. Herr M. ein aushilfsweise auf der Wohngruppe tätiger
Mitarbeiter nennt die Wahrung der Intimsphäre von Herrn B., sauberes und
sanftes Arbeiten, Kommunikation sowie das Vermitteln von Sicherheit als wichtig
für Herrn B. Mehrmals verwendet er den Begriff ‚Würde‘, um den Umgang mit Herrn
B. zu kennzeichnen. Für Frau C. ist es wichtig, darauf zu achten, dass Herr B.
in guter körperlicher Verfassung ist und dass er z.B. bei einem Spaziergang
eine trockene Windel anhat. Ihr ist es wichtig, dass Herr B. am
Gruppengeschehen teilhaben kann, dass er räumliche Veränderungen,
Umgebungswechsel hat. Die Wahrnehmung von Wind, Geräuschen, Licht und Schatten,
basale Stimulation, Wasserbett, Baden, Massagen, Düfte sind für sie Angebote,
die Herr B. als ‚Reize‘ aufnehmen kann, wenn er körperlich dazu in der Lage
ist, und die eine Bereicherung für sein Leben darstellen. Auch sie bezeichnet
die ‚Aktivitäten‘ von Herrn B. als ‚Reaktionen‘.
Die Mitarbeiterin der Werktherapie Frau H. nennt als
wichtige Tätigkeiten für Herrn B: Entspannungsübungen, Übungen zur
Körperwahrnehmung, Lockerungsübungen, Tätigkeiten, bei denen die Sinne
angesprochen werden wie Riechen, Schmecken, Fühlen, Wahrnehmungsübungen, aber
auch Übungen zur Durchblutungsförderung. Nicht die Arbeitsanforderung, das
Produkt der Tätigkeit ist für sie wichtig, sondern dass Herr B. sich wohl
fühlt, dass er sich entspannen kann und seine Körperfunktionen angeregt werden.
Für Frau T., eine Praktikantin einer Ergotherapieschule
nennt die Teilhabe am Geschehen der Gruppe und das Verstehen der jeweiligen
Aktionen als wichtig. Auch sie nennt Tätigkeiten aus dem Bereich der basalen
Stimulation, der Kontaktaufnahme sowie aus den Bereichen Pflege und
Krankengymnastik. Das Vermeiden eines Gefühls von Isolation und bewusste
Wahrnehmung der Umwelt sind ihrer Meinung nach bedeutsame Aktivitäten für Herrn
B.
Zusammenfassend
lassen sich folgende Bedeutungen von Tätigkeiten für Herrn B. finden:
-
Teilhabe am Leben der Gemeinschaft,
Kommunikation und Kontakt, Aufbau von Beziehung
-
Wohlfühlen in körperlicher und
emotionaler Hinsicht (durch gute Pflege, Krankengymnastik, Lagerung, medizinische
Versorgung u.ä.)
-
Förderung und Erhalt der
Wahrnehmungsfähigkeit (durch therapeutische Maßnahmen wie basale Stimulation
aber auch Spaziergänge u.ä.)
Der Autorin fällt auf, dass die Frage nach der Wichtigkeit
und Bedeutung von Tätigkeiten für Herrn B. immer aus der vermuteten Perspektive
von Herrn B. heraus beantwortet wurde. Was tut ihm gut, was ist für ihn
wichtig? Keiner stellte die Frage, ob das, was Herr B. tut, für die Umwelt von
Bedeutung ist. Dies mag an der Art der Fragestellung der Autorin gelegen haben.
Jedoch stellt sich ihr im Nachhinein die Frage, welche Antworten die
Beteiligten wohl auf die Frage nach der Bedeutung der Tätigkeiten für die
andern, für das Umfeld gegeben hätten. Ist es für die MitarbeiterInnen der
Korbflechterei von Bedeutung, dass Herr B. in ihrer Gruppe ist? Aus den
Antworten der Befragung einiger behinderter MitarbeiterInnen der Arbeitsgruppe
(vergl. Anlage 5) wagt die Autorin ein vorsichtiges Ja, da eine Mitarbeiterin
von einer Veränderung spricht, die bei ihr stattgefunden habe. Zuerst habe sie
Herrn B. ausgelacht, aber später nicht mehr. Seine Präsenz hat offensichtlich
etwas bewirkt. Offensichtlich gibt es aber noch keine Worte bei den behinderten
MitarbeiterInnen dafür und auch für die pädagogischen, pflegerischen und
therapeutischen MitarbeiterInnen gibt es noch keine Begrifflichkeit und kein
Bewusstsein für diesen Aspekt. Die Sichtweise der MitarbeiterInnen lässt sich
mit der Frage zusammenfassen: „Was können wir für Herrn B. tun?“ die Fragen
lauten gegenwärtig noch nicht: „Was bewirkt Herr B. bei uns?“, „Welche
Bedeutung hat seine Aktivität für uns?“
Die
Bedeutsamkeit der Aktivitäten von Herrn B. liegen sicherlich nicht im
produktiven Bereich. Herr B. kann nichts produzieren, was materiell fassbar
wäre. Ein ‚Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit‘, wie es noch bis
vor kurzem in den Richtlinien zur Aufnahme in eine Werkstatt für Behinderte
hieß, ist von Herrn B. nicht zu erwarten und wird auch niemals möglich sein.
Wenn unser Blickwinkel sich nur in diese Richtung öffnet, hätte Herr B. keine
‚Betätigungen‘ vorzuweisen. Erst wenn wir unsere Blickrichtung ändern und nicht
auf ein äußeres Produkt richten, sondern uns nach Innen wenden, erschließen
sich neue Perspektiven. Alle berichten von seinem ‚strahlenden Blick‘, manch
einer schildert, dass es ihn froh macht, wenn Herr B. den Blickkontakt
erwidert. Dies sind Bedeutsamkeiten auf der Beziehungsebene, hier wird unser
Menschsein, unser innerer Kern angesprochen, der Bereich, der im Kanadischen
Modell mit Spiritualität bezeichnet wird. Im 5. Kapitel wird dieser Aspekt auf
dem Hintergrund der beiden eingangs beschriebenen ergotherapeutischen Modelle
noch etwas näher ausgearbeitet werden.
4.5 Zusammenfassung
Aus diesen Ausführungen lässt sich für Herrn A. eindeutig
feststellen, dass es sich bei seinen Tätigkeiten und ‚Betätigungen‘ im Sinne
der von CHRISTIANSEN (1995,7) geforderten Kriterien handelt, auch wenn Herr A.
dabei z.T. auf Hilfestellung durch andere Menschen angewiesen ist.
Bei Herrn B. lassen sich die Aktivitäten eher als ‚Reiz-
Reaktions‘ Schemata bezeichnen. Die komplexeren Handlungsabläufe, in denen die
MitarbeiterInnen z.B. eine Pflegetätigkeit durchführen, lassen sich als
Betätigungen der Mitarbeiter bezeichnen. Hier werden die MitarbeiterInnen
stellvertretend für Herrn B. tätig, der nicht mehr Subjekt, sondern Objekt des
Handelns anderer wird. Zum Subjekt wird Herr B. jedoch nicht durch seine
Betätigungen, sondern durch seine Präsenz.
Nicht sein Betätigungsverhalten ist bedeutsam, sondern das,
was er aufgrund seiner Präsenz zu bewirken vermag. Diesen Aspekt zu
verdeutlichen soll Aufgabe des nächsten Kapitels sein.
5 Diskussion:
Sind aufgrund
der Ergebnisse der Studie das Model of Human Occupation nach Kielhofner (MOHO)
und das Kanadische Modell der Occupational Performance eine Hilfe zur Erfassung
und Darstellung des Betätigungsverhaltens von Menschen mit schweren
Behinderungen?
Zu Beginn der Arbeit wurde die Frage aufgeworfen, ob die
beiden oben genannten ergotherapeutischen Modelle des menschlichen
Betätigungsverhaltens hilfreich für die Erfassung und Darstellung des
Betätigungsverhaltens von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen
sind. Diese Frage soll in den
nachfolgenden Abschnitten beantwortet werden.
5.1 Die Anwendbarkeit des Models of Human
Occupation nach Kielhofner bei Herrn A.
Einige der Betätigungen, die bei Herrn A. aufgeführt wurden,
finden sich in der Interessencheckliste, die im Rahmen des Kielhofner Modells
angewendet wird (vergl. Anlage 9). Im Rahmen der Studie wurden in
unterschiedlichen Zusammenhängen folgende Betätigungen für Herrn A. genannt:
Radio hören, Spazieren gehen, Besuche abstatten, Reisen, Gesellschaftsspiele,
Vereine, Theaterbesuch, Naturbeobachtungen, Religion, Backen sowie Malen. Für
eine systematische Erfassung der Interessen von Herrn A. könnte die Anwendung
dieser Checkliste sinnvoll sein. Die Autorin hat jedoch im Rahmen einer andern
Arbeit selbst ein adaptiertes Verfahren erstellt, wie die Interessen bei
älteren Menschen mit einer geistigen Behinderung erfasst werden können, und
dabei behinderungsbedingte Einschränkungen berücksichtigt werden.
Der Fragebogen zur Volition (vergl. Anlage 10) enthält
ebenfalls viele Formulierungen, die auch in den Beobachtungsbögen zu finden
sind, wie z.B. „versucht, Probleme zu lösen“, „versucht, andere zu
unterstützen“, „zeigt Vorlieben“, „ist lebhaft, aktiv“, „zeigt, dass eine
Aktivität ihm etwas bedeutet.“ Diese Beschreibungen mit den dazu gehörenden
Ausführungen sind sicherlich auf Herrn A. anwendbar. Da es sich bei seinen
Aktivitäten eindeutig um Betätigungsverhalten im ergotherapeutischen Sinne
handelt, ist davon auszugehen, dass auch die anderen Assessmentverfahren, die
MOHO anbietet, bei Herrn A. anwendbar sind.
Herr verfügt über ein Selbstbild, deutliche Werte und starke
Interessen und zeigt somit eine ausgeprägte ‚Volition‘. Er nimmt in seinem
Alltag mehrere Rollen ein, sein Tagesablauf ist durch verschiedene Gewohnheiten
strukturiert. Auch der Aspekt ‚Habituation‘ ist so bei ihm mit Substanz
gefüllt. Trotz seiner starken Einschränkungen im Bereich ‚Geist- Gehirn-
Körper- Performanz‘ ist er in der Lage, die verbliebenen Funktionen bewusst und
in seinem Interesse einzusetzen. Trotz seiner schweren Behinderung ist er als
Person von einer hohen Integrität.
Er benötigt eine Umwelt, die seinen behinderungsbedingten
Einschränkungen Rechnung trägt, um das ihm verbliebene Betätigungsverhalten
auch ausführen zu können. Seine räumliche Umgebung muss rollstuhlgerecht sein,
einige Objekte seines Alltags müssen adaptiert werden, er benötigt
Hilfsmittel. Die Betätigungsformen
müssen seinen Fähigkeiten entsprechend teilweise für ihn modifiziert werden. Herr A. ist in
unterschiedlichen sozialen Gruppen, die sich jedoch fast ausschließlich in der
Institution befinden, eingebunden.
Die Elemente, die das Model of Human Occupation nach
Kielhofner aufweist, eignen sich, um das Betätigungsverhalten von Herrn A. zu
untersuchen und um sich ein Bild von seiner Person zu machen. Im Fragebogen zur
Volition wird auch die Qualität der Umwelt mit erfasst, deren Gestaltung für
Herrn A. eine Voraussetzung für das Wirksamwerden seiner
Betätigungsmöglichkeiten bildet.
Somit erweist sich das Model of Human Occupation nach
Kielhofner sowie die damit verbundenen
Assessmentverfahren als grundsätzlich anwendbar auf Menschen mit schwersten
Behinderungen wie Herrn A.
5.1 Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occupational
Performance auf Herrn A.
Auch das Kanadische Modell (vergl. Abb.2) lässt sich bei
Herrn A. anwenden. Alle dort aufgeführten Begriffe finden sich in seinem Alltag
wieder.
Für den Bereich Umwelt (Abb. 2 grüner Kreis) gilt dasselbe
wie im Modell KIELHOFNER’S. Die Umwelt stellt für Herrn A. den Rahmen seines
Lebens dar. Sie muss seinen Bedürfnissen entsprechend gestaltet sein. Der
Bereich der Betätigung (Abb. 2 blauer Kreis) ist die verbindende Zone zwischen
der Umwelt und der Person. Durch die Betätigungen tritt der Mensch in
Beziehung und Austausch mit der Umwelt.
Bei einer Unterteilung der Betätigungen in die Bereiche: Produktivität/ Arbeit,
Selbstversorgung und Freizeit lassen sich für Herrn A. keine eindeutigen
Zuordnungen der einzelnen Betätigungen zu diesem Bereichen machen.
Herr A. sagt beispielsweise von sich selbst, dass er nicht
mehr arbeite, sondern nur noch Beschäftigungen wie ‚Spülmaschine ausräumen‘ und
‚Post verteilen‘ nachgehe. Arbeit sind für ihn z.B. die pflegerischen
Tätigkeiten der MitarbeiterInnen sowie seine frühere Tätigkeit in der
Holzwerkstatt und in der Küche. Frau R., Mitarbeiterin aus dem Wohnbereich,
ordnet das Ausräumen der Spülmaschine sowie die Verteilung der Post sowohl dem
Freizeitbereich als auch der Selbstversorgung zu.
Für die Mitarbeiterin in der Seniorentagesstätte stellt z.B.
das ‚Malen‘ eine Arbeit dar, eine andere Mitarbeiterin streicht den Begriff
Arbeit durch. Hätte in diesem Befragungsbogen statt ‚Arbeit‘ der Begriff
‚Produktivität‘ gestanden, hätten die Antworten bei Herrn A., der ja Rentner
ist, vermutlich etwas anders ausgesehen. Für den Bereich Freizeit werden
verschiedene Tätigkeiten genannt, wie z. B. ‘In Urlaub fahren‘, ‚Musik machen‘,
‚Ausflüge machen‘ etc. Diese Zuordnungen entsprechen dem, was im Allgemeinen
auch unter Freizeit verstanden wird. Unter dem Begriff ‚Selbstversorgung‘
werden Tätigkeiten aufgeführt, bei denen er weit-gehend auf Hilfe angewiesen
ist, wie Waschen, Baden, Anziehen etc.
Als Person (Abb. 2 rotes Dreieck) verfügt Herr A. über viele
Fähigkeiten im affektiven, kognitiven und physischen Bereich, die, wenn auch
eingeschränkt, so ihm aber dennoch gezieltes Handeln und Ausdruck seiner
Persönlichkeit ermöglichen.
Was den Bereich Spiritualität kennzeichnet (Abb. 2 gelber
Kreis), lässt sich auf den ersten Blick nicht so deutlich erkennen. Zwar
bezeichnet sich Herr A. als Christ und nimmt an religiösen Aktivitäten teil,
was die eigentliche Spiritualität ausmacht, lässt das Kanadische Modell jedoch
weitestgehend offen. Die Spiritualität wird umschrieben durch ihre Wirkung auf
die Person, also durch das, was sich in der Persönlichkeit abbildet. Es ist die
‚Energie‘, der ‚Motor‘ mit dem die Person auf die Umwelt wirkt und diese
verändert. Die ‚Essenz‘ dieser ‚Energie‘ wird nicht beschrieben. Offensichtlich
fehlen hierfür gegenwärtig die Begriffe.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch das
Kanadische Modell der Occupational Performance über die wesentliche Begriffe
verfügt, einen Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen wie Herrn A. als
Person und in seinem Betätigungsverhalten zu beschreiben. Im Gegensatz zum
Modell Kielhofner’s liegt hier der Schwerpunkt nicht auf dem
Betätigungsverhalten, sondern geht klientenzentriert von der Person aus und hat
somit einen anderen Blickwinkel.
5.3 Die Anwendbarkeit des Models of Human
Occupation nach Kielhofner bei Herrn B.
Im Gegensatz zu der recht einfachen Zuordnung des
Betätigungsverhaltens von Herrn A. in die beiden Modelle erscheint es der Autorin schwierig, das
Betätigungsverhalten von Herrn B. mit Hilfe der im Model of Human Occupation
nach Kielhofner angebotenen Assessmentverfahren zu beschreiben. Herr B. zeigt
durchgängig nur sehr minimale Aktivitäten, geschweige denn eindeutige
Betätigungsverhalten. Beim Fragebogen zur Volition wären beispielsweise
lediglich die Punkte „zeigt Neugier“, „ist lebhaft“ und „zeigt, dass eine
Aktivität ihm etwas bedeutet“ für bestimmte Zeiten am Tag anders als durch die
Begriffe „passiv“ zu beantworten.
Auch ACIS, das zu MOHO gehörende Assessment der
Kommunikations- und Interaktionsfähigkeiten
(FORSYTH,K. et al. 1995, nach einer Übersetzung von MENTRUP, C. 1997),
formuliert so hohe Anforderungen, dass Herr B. aufgrund seines sehr
eingeschränkten Betätigungsverhaltens nur im Bereich Blickkontakt andere als
minimale Werte erreichen kann. Seine schwere Behinderung führt zu einer sehr
schwachen‚ Geist- Gehirn- Körper- Performanz‘, die eine Ausbildung üblicher
Rollen kaum zulässt. MitarbeiterInnen und ArbeitskollegInnen sehen Herrn B. in
der Rolle des Hilfebedürftigen, der Unterstützung, Pflege, Ansprache bedarf.
Das Model of Human Occupation von Kielhofner setzt
‚Volition‘, ‚Habituation‘ und ‚Geist– Gehirn– Körper- Performanz‘ voraus und legt den Fokus auf die Betätigung
des Menschen. In diesem Modell findet sich wenig Raum für die Persönlichkeit
von Herrn B, die sich eben gerade nicht in seinem Betätigungs-verhalten,
sondern in seiner Präsenz entfaltet.
5.4 Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells
der Occuaptional Performance auf Herrn B.
Anders das Kanadische Modell der Occupational Performance,
in dem die Betätigungen in den Zusammenhang von Umwelt und Person, deren Kern
die Spiritualität ist, eingebettet sind. Zwar wird auch hier die Person aus dem
Zusammenspiel affektiver, kognitiver und physischer Komponenten her definiert,
die sich aber um einen Kern herum formieren, der als Spiritualität bezeichnet
wird. Dieser Kern wird als das Wesentliche der Person bezeichnet, ohne dies
näher zu beschreiben. Dieser Ansatz eröffnet nach Ansicht der Autorin den Raum,
der notwendig ist, um sich der Bedeutung des Lebens von Herrn B. annähern zu
können. Da für ihn der gesamte Bereich von Betätigung im eigentlichen Sinn
nicht existiert, steht er bildlich gesprochen mit dem Kern seiner Person in
Bezug zur Umwelt. Die ‚schützende Hülle‘, die normalerweise durch die
kognitiven, affektiven und physischen Fähigkeiten besteht, und die sich im
Betätigungs-verhalten äußert, ist so gut wie nicht vorhanden. Die Autorin hat,
um dies zu verdeutlichen, das kanadische Modell graphisch modifiziert (Abb. 3).
Hieran wird deutlich, was sich verändert, wenn das Betätigungsverhalten und die
persönlichen Fähigkeiten aufgrund einer Behinderung sehr stark eingeschränkt
sind. An diesem Modell kann man sehen, dass wir Herrn B. sozusagen an der
Grenze zu dem Bereich, den wir normalerweise als unser Innerstes schützen,
begegnen, an dem Bereich, der über uns hinaus geht, der uns ‚transzendiert‘.
Abbildung 3: Abwandlung des kanadischen Modells der
‘Occupational Performance’ für Menschen mit sehr geringem Betätigungsverhalten
(U. Dürrbeck 2000 modifiziert nach CAOT 1997)
Zwar
spielt sich das Leben von Herrn B. in den normalen Strukturen wie Freizeit,
Arbeit, Selbstversorgung ab, aber bereits die Zuordnung seiner Aktivitäten zu
diesen Bereichen ist sehr uneinheitlich. Seine ArbeitskollegInnen bezeichnen
seine Tätigkeiten im Arbeitsbereich nicht als Arbeit (vergl. Anlage 5), für die
MitarbeiterInnen im Arbeitsbereich stellen Aktivitäten wie ‚sich
entspannen‘ für Herrn B. bereits Arbeit
dar. ‚Spazierengehen‘ hingegen ist eine Tätigkeit, die sowohl im Bereich
Wohnen/Freizeit, als auch im Bereich Arbeit als Aktivität mit Herrn B.
durchgeführt wird. Die Unterteilung der Aktivitäten von Herrn B. in die
Bereiche Produktivität / Arbeit und Freizeit sowie Selbstversorgung erscheint
von geringer Bedeutung. Wichtiger sind andere Begriffe wie ‚Sich - Wohlfühlen‘,
‚Teilhabe‘, ‚Abwechslung‘ und ‚Kommunikation‘, die sich durch alle Bereiche
ziehen. Die Unterteilung in Arbeit / Produktivität, Freizeit und
Selbstversorgung ist eher ein Konstrukt, welches zu einer klaren Tagesstruktur
verhilft und ‚Normalität‘ aus Sicht der ihn umgebenden Menschen erzeugt.
Im Rahmen des Kanadischen Modells ist es nach Ansicht der
Autorin möglich, einen Platz für die Persönlichkeit des Herrn B. zu finden. Da
der Fokus auf dem Klienten liegt, dessen Kern trotz behinderungsbedingter
Einschränkungen als integer bezeichnet werden muss, ergeben sich hier neue
Ansätze für Fragestellungen. Diese sollen im letzten Kapitel dargestellt
werden.
Zusammenfassend
stellt die Autorin fest, dass es Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, wie
z. B. Herrn A. gibt, bei denen ein Betätigungs-verhalten erkennbar und
beschreibbar ist und deshalb auch mit Hilfe des Models of Human Occupation nach
Kielhofner sowie mit Hilfe des Kanadischen Modells der Occupational Performance
erfassbar und darstellbar ist.
Es
gibt aber auch Menschen, wie Herrn B, deren Behinderung so stark ist, dass
Betätigungen im Sinne ergotherapeutischer Definitionen nur sehr begrenzt
beschreibbar sind. Wenn man für die Beschreibung dieser Menschen Modelle
heranzieht, deren Fokus auf dem Betätigungsverhalten liegt, so kann man diesen
Menschen nicht mehr gerecht werden, da ihr Betätigungsverhalten extrem
defizitär ist.
Das
Kanadische Modell stellt nach Ansicht der Autorin ein geeigneteres Modell zur Beschreibung
dieses Personenkreises dar, da es nicht das Betätigungsverhalten des Menschen
fokussiert, sondern das Zusammenspiel zwischen dem Menschen und seiner
Umgebung. Die Erweiterung des Verständnisses der menschlichen Person um den
Begriff ‚Spiritualität‘ eröffnet einen neuen Raum, um der Persönlichkeit von
Menschen mit sehr schweren Behinderungen gerecht zu werden. Sie können über ihr
Betätigungsverhalten nicht zu Subjekten werden, da sie in diesem Bereich immer
auf die vollständige Hilfe anderer Menschen angewiesen sind. Im Kern ihrer
Person aber, dort wo sie ‚nur‘ präsent sind, wirken sie auf ihr Umfeld ein und
werden so zum Subjekt, zu Handelnden. Nicht ihr ‚Tun‘ ist das Wesentliche ihrer
Existenz, sondern das ‚Sein‘.
Ergotherapeuten,
deren berufliches Verständnis stark an die Handlungsebene, das Tun gekoppelt
ist, fällt es, wie anderen Menschen auch, schwer, diesen Bereich in ihrer
Arbeit zu beachten. Auseinandersetzungen mit diesem Thema finden sich denn
eher, wenn überhaupt in der theologischen und philosophischen Literatur sowie
bei einigen Schriftstellern. Die Autorin, die selbst seit vielen Jahren zur
Gemeinschaft der Arche gehört, in der Menschen mit schweren Behinderungen
gemeinsam mit nichtbehinderten Menschen leben, hat die Erfahrung gemacht, dass
gerade Menschen, die wenig tun können, durch ihre Persönlichkeit, durch ihre
Präsenz einen wertvollen Beitrag zum Leben der Gemeinschaft geben, dass sie
Kräfte in uns wecken und uns sensibler füreinander machen. Es gibt einen etwas
altertümlich Ausdruck dafür, sie wirken ‚gemütsbildend‘,
Nach
Meinung der Autorin ist es lohnenswert, das Leben und die Aktivitäten von
Menschen mit sehr schweren Behinderungen auf dem Hintergrund einer solchen
Fragestellung zu erforschen und zu
beschreiben. Das eingangs zitierte Buch des Theologen und Arche- Mitglieds
Henry NOUWEN : ‚Adam und ich‘ schildert genau diese Fähigkeit
schwerstbehinderter Menschen, gemeinschaftsbildend und gemütsbildend zu wirken,
wenn die Umgebung sich dieser Herausforderung stellt.
Mögliche
Fragestellungen für weitere Forschungen könnten sein:
-
Welche Wirkungen haben Menschen mit
schweren Behinderungen auf ihr Umfeld?
-
Verändern Menschen mit schweren
Behinderungen etwas im Verhalten, in der Einstellung der Menschen ihrer
Umgebung? Was verändern sie?
-
Wie lässt sich der im kanadischen
Modell enthaltene Begriff ‚Spiritualität‘ näher beschreiben und erfassen? Was
beinhaltet er?
-
Wie muss die Umwelt von Menschen mit
schwersten Mehrfachbehinderungen im Sinne des Herrn B. gestaltet sein, damit
‚Spiritualität‘ sich entfalten kann?
Zur
Bearbeitung dieser Forschungsfrage, könnte man zum einen, qualitative
Untersuchungen anstellen, um die Phänomene zu beschreiben, zum anderen handelt
es sich bei der Frage nach der Spiritualität um einen Begriff, für den sich
eher die Geisteswissenschaften zuständig fühlen. Ein interdisziplinärer Ansatz
zur Bearbeitung einer solchen Fragestellung erscheint der Autorin deshalb als
wünschenswert. Gerade in Zeiten, wo zunehmend auf Leistung und Produktivität im
materiellen Sinn geschaut wird, können solche Fragestellungen helfen,
wesentliche Aspekte unseres Menschseins wieder in den Blick zu bekommen und das
Leben nicht nur unter dem Aspekt der ‚Machbarkeit‘, sondern auch unter dem
Aspekt des ‚Seins‘ zu sehen. ‚Produktivität‘, ‚Betätigung‘ lebt immer auf ein
Ziel hin, lebt für die Zukunft. Das ‚Sein‘ ist ‚Präsenz‘, ist Gegenwart im Hier
und Jetzt, absichtslos, es ist Leben in seiner ursprünglichsten Form,
verletzbar aber ganz real. Menschen mit
sehr schweren Behinderungen lehren uns, diese Präsenz zu leben und auszuhalten,
es ist nicht wichtig, was morgen ist, nur heute, jetzt zählt. Dieses Leben im
Moment, in der Gegenwart wird in vielen Religionen als Ausdruck von
Spiritualität betrachtet. Und hier schließt sich der Kreis. Das Unvermögen
manches schwerstmehrfach behinderten Menschen zur Betätigung konfrontiert uns
mit dem Anspruch, ganz präsent zu sein, um auf ihre Präsenz antworten zu
können. Hier liegt eine Chance, unsere Spiritualität zu leben oder zu
entdecken. Eine Herausforderung wissenschaftlicher aber vor allem menschlicher
Art.
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