Journal für ergotherapeutische Forschung und Lehre JEFL  1/2001 

"Betätigungen" von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen.
  Eine explorative Studie

Ulrike Dürrbeck, Waldquellenweg 2, 33649 Bielefeld, E-Mail: ulrike-duerrbeck@onlinehome.de

Die Arbeit wurde bei der Fachhochschule Osnabrück im Weiterbildungsstudiengang Ergotherapie als 2. Hausarbeit angefertigt

 

Stichworte: Qualitative Forschung, Case Reports, CMOP, MOHO, Handlungstheorie, Mehrfachbehinderungen, Geistige Behinderung

Inhalt

1            Einleitung

1.1          Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, eine Begriffsklärung

1.2          Ergotherapeutische Ansätze zur Klärung des Begriffes ‚Betätigung'

1.2.1       Haben Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen beobachtbare Betätigungen (‚occupations')?

1.2.2       Relevante Aspekte des Kanadischen Modells der Occupational Performance

1.2.3       Relevante Aspekte des Models of Human Occupation (MOHO) von Gary Kielhofner

 

2            Methoden

2.1          Theoretische Grundlagen zur methodischen Vorgehensweise dieser Arbeit

2.1.1       Kennzeichen qualitativer Sozialforschung

2.1.2       Die Einzelfallstudie

2.1.3       Methoden, die in diesen Einzelfall-Studien angewandt wurden

 

2.2          Erfahrungen mit der methodischen Vorgehensweise im Rahmen dieser Arbeit

 

2.3          Das Lebensumfeld der untersuchten Personen

2.3.1       Beschreibung von Haus A., dem Wohnort von Herrn A.

2.3.2       Beschreibung von Haus B., dem Wohnort von Herrn B.

2.3.3       Beschreibung der Seniorentagesstätte, Haus St., Ort der tagesstrukturierenden Maßnahme von Herrn A.

2.3.4       Beschreibung der Werktherapie Haus Wt., dem Arbeitsplatz von Herrn B.

 

2.4          Beschreibung der beiden untersuchten Personen

2.4.1       Beschreibung von Herrn A.

2.4.2       Beschreibung von Herrn B.

 

3            Darstellung der Beobachtungen der Untersuchung

3.4          Ein Tagesablauf im Leben von Herrn A.

3.5          Ein Tag im Leben des Herrn B.

3.3          Betätigungskategorien von Herrn A.

3.4.         Betätigungskategorien von Herrn B.

 

4            Auswertung der Ergebnisse der Beobachtungen

4.1          Ziele und Absichten der beobachteten Aktivitäten

4.2          Zusammenhänge der beobachteten Aktivitäten mit dem Umfeld

4.3          Benennung und Identifikation der Aktivitäten durch die Handelnden

4.4          Die Bedeutung der Aktivitäten für die Handelnden

4.5          Zusammenfassung

 

5                 Diskussion:
                  
Sind aufgrund der Ergebnisse der Studie
                   das Model of Human Occupation nach Kielhofner (MOHO) und
                   das Kanadische Modell  der Occupational Performance
                   eine Hilfe zur Erfassung  und Darstellung des Betätigungsverhaltens von Menschen mit
                   schweren Behinderungen?

5.1          Die Anwendbarkeit des Models of Human Occupation nach Kielhofner bei Herrn A.

5.2          Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occupational Performance auf Herrn A.

5.3          Die Anwendbarkeit des Models of Human Occupation nach Kielhofner bei Herrn B.

5.4          Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occuaptional Performance auf Herrn B.

 

6            Zusammenfassung, Ausblick

 

7.           Literaturverzeichniss

 

8.           Anhang

 

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1       Einleitung

‚Betätigungen von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen‘ lautet der Titel der vorliegenden Arbeit. Betätigungen oder auch Beschäftigungen sind der grundlegende Inhalt der Arbeit eines ‚Beschäftigungstherapeuten‘, wie unser Beruf noch bis vor kurzem genannt wurde. Die Autorin soll im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit unter anderem Freizeitangebote für Menschen mit schweren Behinderungen entwickeln und durchführen.

Wie aber können solche Angebote aussehen? Was bedeutet Freizeit für diese Personengruppe? Welche Tätigkeiten gehören in diesen Bereich? Und was ist, wenn Betätigungen, Tätigkeiten, Beschäftigungen, mit denen Menschen für gewöhnlich ihr Leben gestalten, nicht mehr möglich sind oder vielleicht nie möglich waren? Was ist, wenn Menschen aufgrund ihrer Behinderungen nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, eigenständig tätig zu werden, sondern auf den ersten Blick nur ‚Objekt‘ des Tätigwerdens anderer Menschen, in der Regel ihrer Betreuter sind?

Bevor eine Antwort auf die Frage möglich ist, wie Freizeit- oder auch Arbeitsangebote für diese Personengruppe aussehen können, müssen zunächst grundlegendere Fragen beantwortet werden.

-          Wie sehen überhaupt Betätigungen von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen aus?

-          Was lässt sich beobachten?

-          Kann man bei Menschen, die fast ausschließlich auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind, überhaupt von Betätigungen sprechen?

-          Mit welchen Begriffen lässt sich das Betätigungsverhalten beschreiben?

Diesen Grundfragen möchte die Autorin in ihrer nachfolgenden Arbeit nachgehen. Sie hat deshalb zwei Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen jeweils einen Tag lang in einer großen Einrichtung der Behindertenhilfe in Norddeutschland begleitet und beobachtet.

Die Ergebnisse dieser Beobachtungen werden ausgewertet und in Bezug gesetzt zu zwei Modellen der Ergotherapie. In der vorliegenden Studie sollen das ‚Kanadische Modell der Occupational‘ (CMOP) sowie das ‚Model of Human Occupation‘ von Gary Kielhofner (MOHO) näher betrachtet werden. Diese beiden Modelle, wurden in den letzten Jahren auch in Deutschland bekannt, und sollen nun herangezogen werden mit der Fragestellung, ob sich in den Modellen Begriffe und Vorstellungen finden, die hilfreich sind für das Verständnis des Betätigungsverhalten von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen.

 

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1.1    Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, eine Begriffsklärung

 

Der Begriff ‚Behinderung‘ (Handicap) beinhaltet nach der Definition der WHO die Nachteile, die eine Person aus einer Schädigung (Impairment) oder Beeinträchtigung (Disability) hat. Ulrich BLEIDIECK (1977) definiert den Begriff ‚Behinderung‘ folgendermaßen: „Als behindert gelten Personen, welche infolge einer Schädigung ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Funktionen soweit beeinträchtigt sind, dass ihre unmittelbaren Lebensverrichtungen oder die Teilnahme am Leben der Gesellschaft erschwert wird.“

 

Behinderung ist somit nach BLEIDICK nicht alleine die Schädigung, sondern auch die daraus resultierende gesellschaftliche Beeinträchtigung. Bedingungen und Erwartungen einer Gesellschaft können auf diese Weise mit zu Beeinträchtigungen und Benachteiligungen führen.

 

In der Medizin gibt es noch keine eindeutige Definition von ‚Behinderung‘. Die BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR REHABILITATION (1984) kommt zu folgender Formulierung: „ Es handelt sich hier um einen im anatomisch – physiologischen Bereich anzusiedelnden, vielschichtigen und gegen die verschiedenen benachbarten Bereiche nicht immer leicht abzugrenzenden Sammelbegriff. Zu der Feststellung dieser relativen Unschärfe des Begriffs ‚Behinderung‘ kommt die Tatsache hinzu, dass der Terminus nicht ausreicht, um die Gesamtheit der hier angegebenen Sachverhalte zu erfassen und die verschiedenen Ebenen aufzuzeigen, in denen ‚Behinderung‘ wirksam wird.“

 

In der Pädagogik wird der Schwerpunkt der Definition auf die Erschwernis der Teilnahme am Leben in der Gesellschaft gelegt, so gelten laut der Empfehlung der Bildungskommission des DEUTSCHEN BILDUNGSRATES (1973)  Menschen als behindert, „...die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten soweit beeinträchtigt sind, dass ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft wesentlich erschwert ist. Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.“

 

Bei  einer Mehrfachbehinderung werden nach SOLAROVA (1975) drei Kategorien unterschieden:

1.       Die  „Mehrfachbehinderung durch schicksalhafte Kumulierung („Sekundär-schädigung“)“ verschiedener Schädigungen mit unterschiedlichen Ursachen.

2.       Die „Mehrfachbehinderung als Folge eines Schädigungssyndroms („multipler primärer Defekt“)“

3.       Die „Mehrfachbehinderung als Folgebehinderung („konsekutive Verbildungen“) einer anderen Behinderung.

 

Der Begriff ‚Schwerstbehinderung‘ ist eine Steigerung des Begriffes ‚Mehrfach-behinderung‘, um einen erhöhten Förderungsbedarf anzuzeigen. Der Begriff ‚Schwerbehinderung‘ ist in Deutschland in Verbindung mit gewissen Rechtsansprüchen zu sehen. In anderen Ländern ist die ‚Schwerbehinderung‘ nur ein anderes Wort für ‚Schwerstbehinderung‘.

Der Begriff Menschen mit ‚schweren Mehrfachbehinderungen‘ ist ein Synonym für den Begriff ‚Schwerstmehrfachbehinderung‘, der von der Autorin als Wortungetüm betrachtet und deshalb von ihr nicht verwendet wird.

 

Die ‚geistige Behinderung‘ lässt sich nach BACH (1982) „charakterisieren als stark regelabweichendes, längerfristiges Vorherrschen anschaulich- vollziehenden Denkens... Dieses anschaulich- vollziehende Denken und entsprechendes Lernen ist durch noch wenig ausgeprägte Vorstellung von Gegenständen und ihren Beziehungen gekennzeichnet und hat dementsprechend noch eine verhältnismäßig unentwickelte Steuerungsfunktion - auch für Wahrnehmungsprozesse, Interessenbildung, sprachliches, soziales, gefühlsmäßiges Verhalten. Daher sind Menschen mit geistiger Behinderung nicht nur hinsichtlich ihrer geistigen Situation, sondern auch in den anderen genannten Bereichen mehr oder minder schwer beeinträchtigt- ganz abgesehen von häufig dazukommenden Körperbehinderungen, Sinnesschäden, Erkrankungen und anderen Benachteiligungen.“

 

Eine geistige Behinderung geht in der Regel auch mit einer mangelnden Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft einher. Der DEUTSCHE BILDUNGSRAT geht in einer Definition von 1973 von lebenslanger sozialer und pädagogischer Hilfe aus. Eine Bildungsunfähigkeit sollte nicht mehr festgelegt werden, da „grundsätzlich bei allen Menschen die Bildungsfähigkeit angenommen werden muss.“

 

Behinderung ist kein statischer, sondern ein dynamischer Prozess, der bedingt wird sowohl durch die individuellen Schädigungen als auch die Bereitschaft der Gesellschaft ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen mit Behinderungen sich entwickeln können und  Lebensbedingungen vorfinden, die ihren Bedürfnissen entsprechen.  Nach THEUNISSEN (1989, 13) handelt es sich bei den Begriffen Behinderung, Schwerstbehinderung u.ä. stets um „askriptive Phänomene, die sich durch das Urteil einer anderen Person ergeben“ und die somit subjektiv sind. THEUNISSEN hält eine genaue Abgrenzung der Begriffe voneinander für problematisch und fordert einen behutsamen Umgang mit diesen Begriffen, „um Diskriminierung, Stigmatisierung, Aussonderung und Isolation der Betroffenen zu vermeiden.“

 

Die beiden in dieser Arbeit untersuchten Personen werden der Gruppe von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen zugerechnet, obwohl das Ausmaß ihrer jeweiligen Behinderungen sehr unterschiedlich ist. Die Autorin hat bewusst zwei sehr unterschiedliche Menschen dieser Gruppe ausgewählt, um daran deutlich machen zu können, wie sehr in dieser Personengruppe differenziert werden muss und wie unterschiedlich und individuell jeder einzelne ‚Fall‘ betrachtet werden muss.

 

Bei Herrn A. handelt es sich um einen über siebzigjährigen Mann mit schweren körperlichen und leichten geistigen Einschränkungen, der im Vergleich zu Herrn B. einem achtundzwanzigjährigen jungen Mann, mit sehr schweren Behinderungen, ein vergleichsweise aktives und selbstbestimmtes Leben führen kann, was für Herrn B. fast gar nicht mehr möglich ist. Herr B. ist vollständig auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen und darauf, dass andere seine Bedürfnisse, die er kaum äussern kann, erkennen. Im zweiten Kapitel werden diese beiden Personen näher beschrieben.

 

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1.2      Ergotherapeutische Ansätze zur Klärung des Begriffes ‚Betätigung‘

 

Die Ausführungen der nächsten Kapitel wurden auf der Grundlage englischsprachiger Literatur (vergl. Literaturverzeichnis) erstellt. Die Übersetzungen der Zitate und der im Verlauf gebrauchten Inhalte erfolgten durch die Autorin und werden im einzelnen nicht gekennzeichnet.

‚Betätigungen / Beschäftigungen können definiert werden als die „gewöhnlichen und familiären Dinge, die Menschen jeden Tag tun.“ (CHRISTIANSEN, CLARK, KIELHOFNER & ROGERS, 1995, 1015). Weitere Definitionen nach CLARK, PARHAM, CARLSON, FRANK, JACKSON, PIERCE, WOLFE & ZEMKE (1991)  schlagen vor, dass diese Tätigkeiten benannt und beschrieben werden können. Der Kanadische Verband der Ergotherapeuten (CAOT) definiert Betätigungen als „Aktivitäten oder Aufgaben, die die zeitlichen und Energieressourcen eines Menschen beanspruchen; dazu gehören insbesondere die Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit.“ (vergl. Canadian Association of Occupational Therapists, 1995, 140). KIELHOFNER festigt diese Definitionen schließlich (1995), indem er menschliche Betätigungen als „das Erledigen einer kulturell bedeutungsvollen Aufgabe, von Spiel oder Alltagsaufgaben im Verlauf des Lebens und im Kontext der eigenen körperlichen und sozialen Umwelt“ beschreibt.

 

In der kanadischen Definition werden die drei Bereiche genannt, die für den Kontext dieser Arbeit von Bedeutung sind, Betätigungen in den Bereichen Freizeit, Produktivität und Selbstversorgung. Die Forderung danach, diese Betätigungen benennen und beschreiben zu können führt zu der ersten Frage, wie die im Alltag von Herrn A. und von Herrn B. stattfindenden Betätigungen benannt und beschrieben werden können und ob sie einer der drei Kategorien Freizeit, Produktivität und Selbstversorgung zugeordnet werden können. Die Definition von Kielhofner fordert zudem, dass den Betätigungen eine Bedeutung zugeschrieben wird. Auch diese Frage wird im Verlauf der Forschung immer wieder von der Autorin an die Beteiligten gestellt werden.

 

Andere Autoren, wie EVANS ( 1987, 627) schlagen vor, dass Betätigungen sich in einer „zielgerichteten, innerlich befriedigenden und kulturell geschätzten Aktivität äußern.“  In der anglo- amerikanischen ergotherapeutischen Diskussion um die Definition des Begriffes ‚Betätigung‘ stellte sich die  Frage, ob eine Betätigung wie ‚Meditation‘ als ‚Aktivität‘ gelten kann, da sie zwar absichtsvoll und gewinnbringend, aber nicht aktiv ist. ‚Betätigungen‘ werden in der ergotherapeutischen Literatur entweder von dem Begriff ‚Aktivitäten‘ abgegrenzt oder ihm gleichgesetzt. ‚Betätigungen‘ sind nach CHRISTIANSEN et. al. (1995) umfassender, komplexer und ausdrucksstärker als einzelne zielbewusste Aktivitäten. So stellt beispielsweise  das Kartoffelschälen eine zielbewusste Aktivität, der Vorgang des Mittagessenkochens für die Familie jedoch eine Betätigung dar.

 

Zusammenfassend haben  nach CHRISTIANSEN  (1995, 7) Betätigungen

1.       immer ein Ziel oder verfolgen eine Absicht, und finden

2.       in Situationen oder Zusammenhängen statt, die auf sie einwirken.

3.       können sie vom Ausführenden benannt und identifiziert werden und

4.       sind sie für den Menschen, der sie ausführt, von Bedeutung.

 

FIDLER und VELDE (1999, 2) verwenden die Begriffe ‚Betätigung‘ und ‚Aktivität‘ austauschbar. Beide Begriffe werden verwandt, um eine Anzahl voneinander abhängiger Aktionen oder Situationen zu beschreiben, die die aktive körperliche oder geistige Beteiligung eines Menschen erfordern, um das beabsichtigte Ergebnis oder Endprodukt dieser Aktionen oder Situationen zu erreichen. FIDLER schlägt vor, folgende Elemente für ‚Betätigungen‘ oder ‚Aktivitäten‘ zugrunde zu legen:

-          Struktur und Form: dies beinhaltet Regeln, Vorgänge, Zeitelemente und Standards.

-          Physikalische Eigenschaften: die wesentlichen Objekte, Materialien und das ‚Setting‘.

-          Aktions- Prozess: die psychomotorischen Verhaltensweisen, die erforderlich sind in Bezug auf den Einsatz der Formen und Eigenschaften.

-          Ergebnis: die erkennbaren Ergebnisse oder Endprodukte der Aktivität.

-          Die realistischen und symbolischen Dimensionen der sozialen, kulturellen und persönlichen Bedeutungen der jeweiligen Aktivität: sowohl in bezug auf die gesamte Aktivität oder Betätigung als auch auf Teile derselben (Struktur, Eigenschaften, Aktion und Ergebnis).“

 

CSIKSZENTMIHALYI und ROCHBERG - HALTON (1981, 11) bringen im Zusammenhang mit dem Begriff der Betätigung die Bezeichnung ‚Homo Faber‘ ins Spiel. Der Mensch ist hierbei sowohl Schöpfer als auch Nutzer von Objekten und steht in einer Beziehung und Interaktion zu dem von ihm Geschaffenen.

 

Die Bedeutung, die eine Betätigung für einen Menschen hat, wird nach FIDLER (1981, in FIDLER 1999, 5) durch verschiedene Faktoren bestimmt:

-          die Wertschätzung durch die Gesellschaft

-          die Kongruenz zwischen der ausführenden Person und ihrer Aktivität

-          das integrative Potential der Aktivität sowie

-          die Überprüfbarkeit des Ergebnisses.

 Hierbei ist es für die intrinsische Motivation, die Zufriedenheit und das Ergebnis von Bedeutung, inwieweit eine Aktivität zu einem Menschen passt,  ob die Hauptmerkmale einer Aktivität übereinstimmen mit den biopsychischen Charakteristika der ausführenden Person.

 

Die Autorin wird in dieser Arbeit die Begriffe ‚Betätigung‘ und ‚Aktivität‘ zunächst als Synonyme betrachten, da eine Abgrenzung der Begriffe voneinander  für die vorliegende Fragestellung wegen der damit verbundenen zusätzlichen Komplexität  als nicht sinnvoll angesehen wird. Die vier Kennzeichen von Betätigung nach CHRISTIANSEN (1995,7) werden in dieser Arbeit zur Auswertung herangezogen

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1.2.1 Haben Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen beobachtbare Betätigungen (‚occupations‘)?

 

Dies ist die zentrale Fragestellung dieser Arbeit. Können das Verhalten, die Reaktionen und Aktivitäten, die bei Herrn B. und Herrn A. im Verlauf der Studie beobachtet werden als Betätigungen nach den oben genannten Kriterien bezeichnet werden? Diese Hauptfrage wirft aufgrund dieser Kriterien weitere Fragen auf:

-          Ist das beobachtete Geschehen absichtsvoll und zielgerichtet oder eher zufällig?

-          Wie sehen die Situationen und Zusammenhänge, das Umfeld, die Umwelt aus, die das Geschehen bedingen?

-          Wie wird Herr A., der sich selbst verbal äußern kann, seine Aktivitäten und Handlungen bezeichnen?

-          Wie werden die Mitarbeiter oder Mitbewohner und Kollegen diese benennen?

-          Welche Begriffe benutzt die Autorin selbst, um das Gesehene und Erlebte zu beschreiben und zu kennzeichnen?

-          Welches sind die Ergebnisse der jeweiligen Betätigungen?

-          Welche Bedeutung hat das Geschehen für die beiden Bewohner?

All diese Fragen müssen in Bezug auf die Beobachtungen gestellt werden, um zu einer Antwort zu gelangen, ob es sich bei dem, was beobachtbar ist, um ‚Betätigungen‘ bzw. ‚Aktivitäten‘ handelt, oder ob möglicherweise andere Begriffe verwendet werden, wie z.B. ‚Reaktion‘. Hierbei  handelt es sich um einen Grundbegriff aus der Lern- oder Verhaltenstheorie. BAUMGART und BÜCHELER  (1998) definieren im Lexikon zur Erwachsenenbildung Reaktion als eine „einfache Verhaltensweise, vor allem im körperlichen oder emotionalen Bereich, die unmittelbar auf das Auftreten eines äußeren oder inneren Reizes erfolgt.“ Aufgrund der eigenen Erfahrung der Autorin in der Arbeit mit Menschen, die schwere Mehrfachbehinderungen haben,  kann eine Reaktion ein unspezifisches Verhalten sein, ohne ein auf den ersten Blick erkennbares Ziel, für einen Beobachter wahrnehmbar nur an einer Veränderung des bisherigen Zustandes. Eine Reaktion kann ein Lächeln, ein Innehalten, ein Laut sein, ein Zusammenzucken, ein Blinzeln, jedenfalls ein Zeichen, dass etwas anders ist, als es vorher war.

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1.2.2 Relevante Aspekte des Kanadischen Modells der Occupational Performance

 

Nach dem kanadischen Modell der Occupational Performance (vergl. Abb. 1) bewegt sich der Mensch als Person in einem Tagesablauf, der geprägt ist durch Betätigungen, die man durch drei Kategorien benennen kann: Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit. Jeder dieser drei Kategorien werden verschiedene Betätigungen zugeordnet (vergl. LAW, M.; POLATAJKO, H.; CARSWELL, A.; Mc COLL, M. A.; POLLOCK, N. ; BAPTISTE, S.; 1999, 160):

 

-          Zur Selbstversorgung gehören die Sorge für die eigene Person, Mobilität und Regelung der persönlichen Angelegenheiten.

-          Zur Produktivität gehören Arbeit, Haushaltsarbeit, Spiel (bei Kindern) sowie Schule und Studium.

-          Zur Freizeit gehören ruhige und aktive Erholung sowie soziale Aktivitäten.

 

In der Einrichtung, in der Herr A. und Herr B. leben, wird versucht, das ‚Zwei – Milieu – Konzept‘ umzusetzen. Dies besagt, dass den schwer behinderten BewohnerInnen eine Tagesstruktur in mindestens zwei verschiedenen Milieus angeboten werden soll. Das eine Milieu oder auch Umfeld ist der Wohnbereich, in dem überwiegend die Betätigungen Selbstversorgung aber auch Freizeit stattfinden, das andere Milieu ist der Bereich der Produktivität, der je nach Alter als Schule, Arbeit oder tagesstrukturierende Maßnahme im Seniorenbereich gestaltet wird. In wieweit das, was in diesen ‚Milieus‘ an Betätigungen oder Aktivitäten stattfindet, von den Beteiligten dieser Studie auch tatsächlich diesen Kategorien zugeordnet wird, soll im Rahmen dieser Studie beantwortet werden.

 

 

Abbildung 1:    Das Kanadische Modell der Occupational Performance (CAOT 1997).

 

Neben einer Kategorisierung von Betätigungen bietet das Kanadische Modell noch zwei weitere Aspekte, die Begriffe ‚Spiritualität‘ und ‚Umwelt‘. Die charakteristischen Züge eines Menschen äußern sich in seinen affektiven, kognitiven und körperlichen Komponenten, die sich um einen Kern formieren, der beim Kanadischen Modell als ‚Spiritualität‘ bezeichnet wird. Diese ‚Spiritualität‘ bezeichnet das „ganz persönliche Innere, die Anteile einer Person, die sie motivieren, sich den Aufgaben und dem Tätigsein im täglichen Leben zu stellen.“ (LAW et. al., 1999, 158). So wie die ‚Spiritualität‘ den inneren Beweggrund einer Betätigung beschreibt, so beschreibt die ‚Umwelt‘ die äußeren Bedingungen, in denen eine Betätigung stattfindet. Nach dem kanadischen Modell werden vier verschiedene Elemente beschrieben, die die ‚Umwelt‘ bilden (vergl. LAW et al. 1999, S. 158):

-          die kulturelle Umwelt mit Traditionen, Werten und Routinen

-          die institutionelle Umwelt mit ökonomischen, rechtlichen und politischen Dienststellen

-          die physische Umwelt mit natürlichen und geschaffenen Gebilden

-          die soziale Umwelt, zu der soziale Beziehungen, Organisationsstrukturen und Einstellungen gehören

Ob und inwieweit diese beiden Begriffe ‚Spiritualität‘ und ‚Umwelt‘ für das Betätigungsverhalten von Menschen mit schweren Behinderungen hilfreich sind, soll im Rahmen dieser Studie ebenfalls herausgearbeitet werden.

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1.2.3 Relevante Aspekte des Models of Human Occupation (MOHO) von Gary Kielhofner

 

Das in den späten 70er Jahren entwickelte ‚Model of Human Occupation‘ (im folgenden MOHO genannt) basiert auf einer dynamischen, systemorientierten ganzheitlichen Sicht des Menschen. Für die vorliegende Arbeit von Bedeutung ist die Theorie der Betätigung und deren Bedeutung für das menschliche Leben (vergl. Abb.2).

 

 

Abbildung 2: Grundschema des ‘Model of Human Occupation’, MOHO

 

Das Modell basiert auf einigen der in Abschnitt 1.2 bereits erwähnten Definitionen des Begriffes Betätigung. Nach KIELHOFNER, MENTRUP; NIEHAUS (1999, 51) ist Betätigung die „zentrale Kraft für Gesundheit, Wohlbefinden, Entwicklung und Veränderung,“ da die Betätigung den Menschen zu den Personen formt, die sie in Zukunft sein werden. Ebenso wie im Kanadischen Modell wird das Betätigungsverhalten als „Ergebnis der Interaktion von persönlichen und umweltbedingten Faktoren verstanden.“ Anders als im Kanadischen Modell wird bei MOHO das aktive Wesen des Menschen mit den Begriffen: ‚Volition‘, ‘Habituation‘ und ‚Performanz' Geist- Gehirn- Körper- Einheit‘ erklärt.

-          Unter dem Begriff ‚Volition‘ wird hierbei der Motivationsaspekt verstanden, das Bedürfnis des Menschen zu handeln. Hierzu gehören das Selbstbild des Menschen, seine Werte und seine Interessen.

-          Zur ‚Habituation‘ gehören seine Gewohnheiten und Rollen.

-          Zur ‚Performanz Geist- Gehirn- Körper- Einheit‘, das heißt zur Fähigkeit, Betätigungen auszuführen, gehören die motorischen, neurologischen, perzeptiven und kognitiven Fähigkeiten des Menschen.

 

Der Begriff der ‚Volition‘ soll im Rahmen dieser Arbeit etwas näher beleuchtet werden, da eine der Ausgangsfragen lautete, was angemessene Freizeitaktivitäten für Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen sein können. Hierbei stellt sich primär die Frage nach den Interessen dieses Personenkreises und dem Wert, den die Betätigung für die jeweilige Person hat. Der Begriff ‚Volition‘ lässt sich nach Ansicht der Autorin am ehesten mit dem Begriff ‚Spiritualität‘ des kanadischen Modells in Verbindung bringen, da beide Begriffe den Motivationsaspekt der Person bezeichnen.

„‚Volition‘ wird“ nach de las HERAS, GEIST und KIELHOFNER (nach einer deutschen Übersetzung 1998 von Barbara DEHNHADRT) „definiert als System von Veranlagung und Selbsterkenntnis, das Personen dazu bringt und es ihnen ermöglicht, etwas zu erwarten, auszuwählen, Erfahrungen zu machen und Verhalten zu interpretieren.“ ‚Volition‘ äußert sich in beobachtbaren Prozessen, wie z.B.: Auswählen von Tätigkeiten, Äußerungen von Vorfreude oder Abneigung, Stolz auf eine Leistung und Ähnliches. Der Fragebogen zur ‚Volition‘ (vergl. Anlage 10) und die Interessencheckliste nach MATSUTSUYU ( 1967) et. al. (1976) (vergl. Anlage 9) helfen bei der Operationalisierung des Konzeptes der ‚Volition‘.

Der Aspekt der Umwelt, der den Rahmen für die Beobachtungen zur ‚Volition‘ darstellt, und der auch beim Kanadischen Modell von wesentlicher Bedeutung ist, wird bearbeitet in den Kapiteln 2.3 ‘Das Lebensumfeld der untersuchten Personen‘ sowie bei den Ergebnissen der Untersuchung im 4. Kapitel. MOHO bildet hierbei ähnliche Kategorien wie das Kanadische Modell: Umwelt des täglichen Lebens, Arbeitsumwelt und Freizeitumwelt.

Im Rahmen dieser Studie erheben sich die  Fragen, ob sich diese Kategorien auf die beiden Klienten der Fallstudie übertragen lassen, ob die Umwelt des täglichen Lebens  gleichzusetzen ist mit den beiden Wohnheimen der Klienten, wo sich die Freizeitumwelt in der Einrichtung abbildet, die konzeptionell von einem Zwei- Milieu – Konzept ausgeht, in dem Freizeit zu einem Unterpunkt der Umwelt des täglichen Lebens wird. Ist der Bereich der Arbeitsumwelt, der sich im Fall des Herrn A. eher auf die Seniorentagesstätte und im Bereich des Herrn B. auf die Werktherapie bezieht nur ein äußerlicher, d.h. rein räumlich bezogener Gestaltungsaspekte von Umwelt oder gibt es auch eine inhaltliche Unterscheidbarkeit und Abgrenzungsmöglichkeit  bedingt durch verschiedene Arten von Betätigungen?

Die Beobachtungen, die im Rahmen dieser Studie erfolgten, wurden nicht anhand des Fragebogens zur ‚Volition‘ vorgenommen, sondern als freie Beobachtungen. Dennoch können die Indikatoren (HERAS, 1998, 13 –20), die in diesem Fragebogen aufgeführt werden (vergl. Anlage 10) für die Kategorienbildung in der Auswertung hinzugezogen werden.

Es ist zu vermuten, dass sich durch die Beschreibung des Tagesablaufes Hinweise auf Rollen und Gewohnheiten finden, die die ‚Habituation‘ der beiden Klienten beschreiben könnten. In der Auswertung der Studie in Kapitel 4 soll auf diesen Aspekt dann Bezug genommen werden.

Einige Aspekte zur ‚Performanz‘ finden sich, nicht expliziert unter diesem Stichwort erwähnt, jeweils unter den Punkten 2.4.1 und 2.4.2  nach einer eigenen Systematik der Autorin. Die Dokumentationen zu den ADL- Fähigkeiten finden sich in den Anlagen 1 (für Herrn A.) und 2 (für Herrn B.). Im Rahmen dieser Studie erfolgt keine Befunderhebung (Assessment) anhand der Instrumente von MOHO oder dem zum kanadischen Modell gehörenden ‚Canadian Occupation Performance Measure‘ (COPM), sondern lediglich im Rahmen der Auswertung eine Bezugnahme auf das theoretische Modell.

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2.      Methoden

 

Im ersten Abschnitt (2.1) werden die theoretischen Grundlagen der von der Autorin verwendeten Forschungsmethode in Bezug auf den qualitativen Forschungsansatz, die ‚Einzelfallstudie‘ (Case- study) sowie die in dieser Arbeit verwendeten Methoden erläutert. Einen Schwerpunkt dieser Erörterung bildet dabei die Frage, warum in dieser Situation ‚Einzelfallstudien‘ erstellt wurden.

Im zweiten Abschnitt dieses Kapitels (2.2) wird die konkrete Vorgehensweise der Autorin beschrieben sowohl in Bezug auf die ursprüngliche Planung als auch auf die Durchführung. Die im Verlauf  der Forschungsarbeit aufgetretenen Schwierigkeiten werden hier ebenso behandelt, wie die notwendigen Veränderungen des ursprünglichen Konzeptes.

Im dritten Abschnitt (2.3) dieses Kapitels wird das Umfeld, die Rahmenbedingungen beschrieben, in denen die beiden Personen leben, die in dieser Studie beobachtet wurden. Dies soll dazu verhelfen, den Aspekt ‚Umwelt‘ besser zu verstehen.

Im letzten Abschnitt (2.4) werden die beiden untersuchten Personen genauer vorgestellt, ihre Persönlichkeit, ihre Biographie sowie ihr Krankheitsbild und die daraus resultierenden Behinderungen beschrieben. Dies soll dazu verhelfen, die den Betätigungen zugrundeliegenden Fähigkeiten und Einschränkungen transparenter zu machen.

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2.1    Theoretische Grundlagen zur methodischen Vorgehensweise dieser Arbeit

 

In seiner Enzyklika Laborem exercens stellt PAPST JOHANNES PAUL II (1981) (zitiert nach HOWARD und HOWARD, 1997) fest, dass alle menschlichen Aktivitäten, egal ob körperlicher oder geistiger Art, Arbeit sind. Die besondere Würde des Menschen leite sich von der Arbeit ab. Menschen als Abbilder Gottes, des Schöpfers haben den Auftrag die Erde zu bevölkern und sie sich untertan zu machen. (Gen. 1,28). Bei der Ausführung dieses Auftrags sei der Mensch ein Abglanz des Wirkens des Schöpfers unseres Universums.

Der Autorin erscheint es bedenklich, den Auftrag und die Würde des Menschen allein von seiner Fähigkeit zur Aktivität abzuleiten. Menschen mit sehr schweren Mehrfachbehinderungen haben es schwer, ‚Arbeit‘ in diesem Sinne zu leisten, oder auch nur einfache Aktivitäten selbst auszuführen. Dennoch sind sie da und wirken durch ihre Präsenz auf unsere Gesellschaft ein. Eine Beschreibung ihres Tuns, ihrer Aktivitäten, ihrer Betätigungen mit den bekannten ergotherapeutischen Verfahren birgt die Gefahr, eine reduktionistische Sichtweise zu entwickeln, bei der die Handlungsfähigkeit des Menschen in den Vordergrund der Beurteilung tritt.  Die Begegnung mit sehr schwer behinderten Menschen macht die Spannung zwischen ‚Sein‘ und ‚Handeln‘, ‚Aktivität‘ und ‚Präsenz‘, ‘Handelndem‘ und ‚Behandeltem‘  deutlich. Zwar soll in dieser Studie das ‚Betätigungsverhalten‘ von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen beobachtet werden, wobei jedoch die Frage dahinter steht, ob das, was im Alltag beobachtet werden kann, sich auch als Betätigung bezeichnen lässt, aber ob andere Begriffe angebrachter sind. Diese Fragestellung erfordert einen offenen Ansatz, bei dem auch Beobachtungen festgehalten werden können, die nicht a priori als ‚Betätigungen‘ definiert werden können. Somit kann die Frage nur im Rahmen einer explorativen, qualitativen Studie bearbeitet werden.

Hinzu kommt, dass die in den klassischen Assessmentverfahren geforderte Objektivität des Therapeuten nach Ansicht VAN AMBURGS (1997) eine Perspektive ohne Engagement ist, die die menschliche Beziehung unpersönlich macht. Objektivität arbeite auf der stillschweigend ausgeübten, reduktionistischen Annahme, dass alle Wahrheit auf strukturierte Weise dargestellt und verifiziert werden könne. Es sei jedoch wichtig, die gemachten Erfahrungen mittels Dialog zu interpretieren, um so die Bedeutung der Wahrheit zu erfahren. Bedeutungsvolle Erfahrungen seien hermeneutischer Natur und benötigten engagierte, anteil-nehmende Beziehungen, um sich auch spirituell zu manifestieren (vergl. VAN AMBURG, 1997).

Eine Voraussetzung für die Beschreibung des Betätigungsverhaltens von Menschen mit schweren Behinderungen ist nach Ansicht der Autorin die Bereitschaft des Forschers, seinen objektiven Standpunkt zu verlassen und sich selbst als Subjekt in den Forschungskontext zu begeben. Ein Teil des Feldes, in dem die Beobachtungen stattfinden, ist der intime Bereich des Bewohners, sein privates Wohnumfeld, seine körperliche Versorgung, seine Beziehungen. Ein Eindringen in diesen Bereich zu Forschungszwecken ist nach Ansicht der Autorin ohne eine Verletzung der Menschenwürde nur dann möglich, wenn ein Vertrauensverhältnis zwischen der beobachteten Person, den beteiligten MitarbeiterInnen und der Forscherin gegeben ist. Die Haltung der Forscherin sollte geprägt sein durch Zurückhaltung, Respekt und Empathie. Eine extreme Art, objektiven Forschungsmethoden an Menschen mit schweren Behinderungen anzuwenden, fanden zur Zeit des Nationalsozialismus statt, wo behinderte und nicht behinderte Menschen als Objekte wissenschaftlicher Forschung missbraucht wurden.

Das Anliegen der Autorin ist nicht primär das Interesse an der ‚Funktionsweise‘ von Menschen mit schweren Behinderungen, sondern die Fragen, was die Bedürfnisse von Menschen mit schweren Behinderungen sind, welche Aktivitäten sie gerne machen? Die therapeutischen Aktivitäten und die Gestaltung der Umwelt können dann auf diesen Erkenntnissen aufbauen, um so einen kleinen Beitrag für diesen Personenkreis zu einem sinnerfüllten Leben in Würde zu leisten.

Henri J.M. NOUWEN, Priester, Theologe und Schriftsteller (1998) beschreibt in seinem Buch ‚Adam und ich, - eine ungewöhnliche Freundschaft‘  seine Beziehung zu einem schwerstbehinderten Mann. Er nutzt dafür die Form der Erzählung, er schildert Begebenheiten und beschreibt seine Gedanken und Empfindungen. Er bringt sich als Person in einer Beziehung zu diesem Menschen ein. Adam, die Hauptperson dieser Erzählung  wird nicht aufgrund seiner ‚Heldentaten‘ oder ‚Fähigkeiten‘ für den Leser zu einem Menschen, dessen Einmaligkeit sichtbar aufstrahlt, sondern durch das, was er allein durch die Art seiner Präsenz bei anderen Menschen auslöst. NOUWEN gelingt es mit diesem Buch, das in Worte zu fassen, was den Kern der menschlichen Person ausmacht, ihre ‚Spiritualität‘.  Das Erzählen von Geschichten aus dem Alltag ist hierbei ein wichtiges Mittel, um auch Erlebnisse, die nicht messbar sind, begreifbar und für einen Außenstehenden nachvollziehbar zu machen. Aus diesem Grund greift die Autorin auch auf dieses Stilmittel zurück, wenn es darum geht, Erlebnisse zu beschreiben, die den Bereich des Objektiven verlassen und subjektive Erlebnisse im Rahmen der Beobachtungen sind. 

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2. 1.1 Kennzeichen qualitativer Sozialforschung

 

Die Schlagworte:  Kommunikation, Verstehen, Subjekt, Lebenswelt kennzeichnen die Vorgehensweise der qualitativen Sozialforschung (vergl. LAMNEK, 1995, 21) und sind somit treffend für das Vorhaben der Autorin.

Die zentralen Prinzipien der qualitativen Sozialforschung sind nach LAMNEK (1995, 21 –30):

1.         Die Offenheit als Grundhaltung gegenüber den Untersuchungspersonen, gegenüber der Untersuchungssituation und den einzelnen anzuwendenden Methoden. Da bei diesem Forschungsansatz auf eine Hypothesenbildung ex ante verzichtet wird, liegt das Schwergewicht der Forschung auf der Exploration.

Zunächst soll in dieser Arbeit das Betätigungsverhalten von Menschen mit schweren Behinderungen erfasst und beschrieben werden, bevor Hypothesen darüber formuliert werden können, welche Angebote sich für diesen Personenkreis eignen.

2.         Die Kommunikation und Interaktion zwischen der Forscherin und den zu Erforschenden ist konstitutiver Bestandteil des Forschungsprozesses.

Gespräche mit den beiden Klienten gehören ebenso zum Prozess, wie der Austausch mit den MitarbeiterInnen auch während der Beobachtungsphasen. Die Autorin sitzt nicht unbemerkt hinter einer Glasscheibe als reine Beobachterin, sondern wird durch ihre Präsenz zur Mitakteurin und Beteiligten am jeweiligen Prozess. Es ist nicht möglich, so zu tun, als wäre man nicht da. Die BewohnerInnen stellen Fragen, treten in Kommunikation oder reagieren auf die Präsenz der Autorin.  Aus dieser Kommunikation und Interaktion können sich wertvolle Hinweise ergeben für die Beantwortung der Fragen, die in dieser Arbeit gestellt werden.  Nicht zuletzt erfährt die Forscherin eine eigene emotionale Beteiligung und kann ihre eigenen Erfahrungen, Beurteilungen und Gefühle mit in die Auswertung der Beobachtung einbringen. Durch die Beteiligung von Forscher, Klient, betreuender Mitarbeiter sowie anderer Bewohner ergeben sich unterschiedliche Perspektiven auf den Forschungsgegenstand. Diese Perspektiventriangulation führt dazu, dass eine zu erstellende ‚Alltagstheorie‘ (vergl. DEWE u.a. 1984) das Ergebnis der Diskussion, des Aushandelns unterschiedlicher Sichtweisen sein muss.

3.         Forschung und Gegenstand der Forschung haben einen Prozesscharakter. Nicht nur die Personen verändern sich durch die Kommunikation und Interaktion, sondern durch jede Handlung, jede Betätigung, wird durch die soziale Wirklichkeit der Handelnden reproduziert, modifiziert und dadurch neu konstitutiert. Die Alltagswirklichkeit verändert sich durch diese Prozesse. Die qualitative Forschung bietet einen Ansatz, diese Veränderungsprozesse zu dokumentieren, analytisch zu rekonstruieren und zu erklären.

Eine Bitte der Forscherin an die Mitarbeiterin, eine bestimmte Tätigkeit kurz zu erläutern, kann z.B. bereits dazu führen, dass ein Mitarbeiter durch die Reflexion seiner Tätigkeit zu einer Modifikation seines Verhaltens gegenüber dem behinderten Bewohner kommt, ohne dass dies von der Forscherin bewusst intendiert war.

4.         Die Reflexivität von Gegenstand und Analyse geht davon aus, dass jedem Gegenstand, jedem menschlichen Verhalten eine kontextgebundene Bedeutung unterliegt, und dass jede Analyse eines Verhaltens auch eine Zuweisung von Bedeutung beinhaltet. Dies bedeutet, dass eine Handlung einen Sinn konstituiert, d.h. für den Handelnden von Bedeutung ist. Eine Analyse der Handlung führt zu einem Sinnverstehen, wodurch sich der Kreis im Sinne eines hermeneutischen Zirkels schließt (vergl. GADAMER, 1960; zitiert nach LAMNEK, 1995, 26).

Eines der Kennzeichen menschlicher Betätigung ist die Bedeutung, der Wert, den die Handlung für einen Menschen hat. In dieser Arbeit, soll dieser Aspekt besonders berücksichtigt werden, da die Frage nach dem Sinn der Betätigungen von Menschen mit schweren Behinderungen im Alltag immer wieder gestellt wird.

5.         Das Prinzip der Explikation ist eine Forderung an die Forscherin, die einzelnen Schritte und Regeln der Untersuchungen so weit als möglich offen zu legen. Der wesentliche Sinn liegt darin, die Vorgehensweise für andere Menschen nachvollziehbar zu machen.

Bei dieser Arbeit befinden sich sämtliche Beobachtungsprotokolle und Befragungsprotokolle im Anhang. Im nächsten Absatz beschreibt die Autorin ihre eigene Vorgehensweise sowohl in bezug auf die Planung als auch auf die Durchführung.

6.         Die Flexibilität ist ein besonders wichtiges Kriterium quantitativer Sozialforschung und bedeutet, dass die Forscherin bei der Exploration eine flexible Vorgehensweise zulässt, die sich an den Erfordernissen der Realität orientiert.

Im Fall dieser Arbeit hatte sich die Forscherin vorgestellt, dass direkt im Anschluss an verschiedene Aktivitäten etwas detailliertere Interviews mit den MitarbeiterInnen möglich seinen. Dies war jedoch aufgrund des auf den Gruppen herrschenden Zeitdrucks eine Illusion. So war es realistischer, die Fragen teilweise im Verlauf der einzelnen Betätigungen zu stellen, bzw. den MitarbeiterInnen einen Befragungsbogen mit Leitfragen auszuhändigen, den sie in Pausen- und Zwischenzeiten ausfüllen konnten, wo es arbeitsmässig möglich war. Gespräche konnten nur dann stattfinden, wenn es den reibungslosen Ablauf des stationären Betriebe nicht störte und nicht zu den Zeiten, wo es idealerweise angebracht gewesen wäre. Somit war die Dokumentation der aktuellen Situation eher das Aufgabenfeld der Forscherin, bei den Beschreibungen der Mitarbei-terInnen handelt es sich dabei in der Regel um einen Rückblick nach einem mehr oder weniger langen Zeitraum (15 Minuten bis zu mehreren Tagen in zwei Fällen).

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2.1.2 Die Einzelfallstudie

 

Bei der Einzelfallstudie handelt es sich nach LAMNIK (1995, Band 2,  5) um einen ‚approach‘, einen Forschungsansatz und keine ausgearbeitete Methodik. Im Rahmen einer Einzelfallstudie können verschiedene methodische Vorgehensweisen zum Zuge kommen. Wesentlich ist bei diesem Ansatz, die Untersuchungs-Objekte nicht auf wenige Variablen zu reduzieren, sondern ein möglichst ganzheitliches, realistisches Bild der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen. LAMNEK (1995, Band 2, 6)  fordert, dass „möglichst alle für das Untersuchungsobjekt relevanten Dimensionen in die Analyse einzubeziehen“ sind.

In dieser explorativen Studie werden zwei ‚Fälle‘ jeweils einen Tag lang beobachtet. Es handelt sich um Menschen aus der Gruppe von Personen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die sich beide hinsichtlich ihres ‚Betätigungs- Potentials‘ sehr unterscheiden. Die Autorin kennt beide Personen aus ihrer bisherigen Arbeit und besitzt einige Vorkenntnisse über die Möglichkeiten, die die beiden Bewohner hinsichtlich ihrer Tagesgestaltung haben. Die Autorin begegnet den beiden Bewohnern in der Regel im Bereich der Freizeitgestaltung und es stellte sich die Frage, inwieweit sich das Betätigungsverhalten der beiden Bewohner in der Freizeit unterscheidet von dem Betätigungsverhalten im Wohn- und Produktionsbereich. Die dahinter stehende Aufgabe, klientenzentrierte Angebote zu entwickeln, bestätigt den Ansatz, zunächst einmal bei wenigen, aber sehr unterschiedlichen Klienten, eine umfassende Analyse ihrer Betätigungen vorzunehmen, um daraus zu einem späteren Zeitpunkt Ansätze für mögliche Betätigungsangebote generieren zu können.

In diesen beiden Einzelfallstudien sollen zum einen das Betätigungsverhalten der beiden Personen beobachtet werden, aber auch das soziale und materielle Umfeld, welches auf dieses Betätigungsverhalten einwirkt. Gerade bei Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen muss davon ausgegangen werden, dass die Rahmenbedingungen ihres Alltags sich auf ihre Betätigungsmöglichkeiten in erheblichem Umfang auswirken. Wie das konkret im Alltag aussieht, sollen die Beobachtungen zeigen. Es soll nach FUCHS et al. (1978, 181, zitiert nach LAMNEK, 1995, Band 2, 7) ein „genauerer Einblick in das Zusammenwirken einer Vielzahl von Faktoren“ ermöglicht werden.

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2.1.3 Methoden, die in diesen Einzelfall-Studien angewandt wurden

 

-          Teilnehmende Beobachtung

Das wichtigste Instrument zur Datenerhebung stellt ein Beobachtungsbogen dar (vergl. Anlage 3), der bereits einige Strukturierungshilfen enthält. Neben einer laufenden Numerierung gibt es eine Spalte für die Uhrzeit, für die Bezeichnung der jeweils stattfinden Aktivität, für weitere Beteiligte, die Umgebung sowie Anmerkungen. Der Hauptfokus der jeweiligen Protokolle liegt aber auf der Dokumentation der stattfindenden Gespräche sowie der von der Autorin gemachten Beobachtungen.

 

 

-          Befragungsbogen mit Leitfragen

Die beteiligten MitarbeiterInnen wurden jeweils im Anschluss an eine längere Handlungssequenz, in der sie mit dem Bewohner tätig waren, gebeten, ihre Beobachtungen und Gedanken in einem Fragebogen festzuhalten (vergl. Anlage 4). Leitfragen sollten bei der Formulierung der Antworten helfen. Ursprünglich war geplant, diese Fragen direkt im Anschluss in Form eines Interviews zu stellen, was sich aber aufgrund von Zeitdruck der MitarbeiterInnen als nicht realisierbar herausstellte. Der Fragebogen gab den MitarbeiterInnen die Möglichkeit, die Fragen zu einem Zeitpunkt zu beantworten, in dem sie selbst dafür die notwendige Ruhe hatten. Einer der Bewohner wurde in einer Situation ebenfalls mit Hilfe dieses Fragebogens befragt. Es zeigte sich aber im Verlauf des Gesprächs, dass es besser war, ein freies Interview mit ihm zu führen.

 

-          Freies  Interview

Sowohl die MitarbeiterInnen als auch einer der Bewohner, Herr A. wurden von der Autorin in Pausenzeiten und wenn es sich ergab befragt. Diese Interviews wurden nur stichwortartig festgehalten und fließen in erster Linie in die Beobachtungsbögen, sowie bei Einrichtungskonzepten und den Krankheitsgeschichten der beiden Klienten mit ein.

Ein schriftlich fixiertes Interview wurde mit den ArbeitskollegInnen von Herrn B. in der Werktherapie geführt (vergl. Anlage 5). Dieses Interview entstand spontan aus der Situation heraus und wurde von der Forscherin protokolliert.

 

-          Auswertung von Krankenakten

Für die Beschreibung der beiden ‚Fälle‘ sowie zur Darstellung der Konzeptionen der verschiedenen Einrichtungen wurde vielfältiges Material der vorhandenen Krankenakten ausgewertet. Hierin fanden sich die Diagnosen, Krankengeschichten, die Entwicklungsberichte, Zeugnisse der Schule, Pflegedokumentationen, ausführliche Befunde sowie Berichte aus dem Arbeitsbereich. Die  Entwicklungsberichte enthielten auch  konzeptionelle Grundgedanken der jeweiligen Einrichtungen. Aus Gründen des Datenschutzes befinden sich nur Abschriften einiger Auszüge der Originaldokumente in dieser Arbeit.

 

-          Kategorisierung der Ergebnisse

Im Verlauf der Auswertung der Beobachtungsbögen sowie der Befragungsbögen wurde ein Bogen entwickelt, der eine Zuordnung der Betätigungen zu unterschiedlichen Kategorien ermöglicht (vergl. Anlagen 6).

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2.2    Erfahrungen mit der methodischen Vorgehensweise im Rahmen dieser Arbeit

 

Im Rahmen der Vorüberlegungen zu dieser Arbeit erstellte die Autorin zunächst eine Feldskizze (vergl. Anlage 12), um die Bereiche zu verdeutlichen, in denen sich die Arbeit bewegen würde.

Feld I kennzeichnet hierbei die Arbeitsstelle der Forscherin, die Teil der gesamten Einrichtung ist. Aus dem Arbeitsbereich der Autorin hat sich die Fragestellung der Arbeit ergeben. Die Fallstudien finden jedoch nicht im direkten Tätigkeitsbereich der Autorin statt.

Feld IV bildet einen Ausschnitt des institutionellen Rahmens ab, in dem die Autorin sich bewegt. Für die Abfassung einer Studienarbeit, die veröffentlicht werden soll, und sei es auch nur im Bereich der Fachhochschule mussten mehrere Genehmigungen eingeholt werden. Für die Veröffentlichung konzeptioneller Gedanken mussten die jeweiligen EinrichtungsleiterInnen um ihre Zustimmung gebeten werden. Für die Beobachtungen der beiden behinderten Menschen wurden mit allen Beteiligten Vorgespräche geführt, Informationen über die Studienarbeit, sowie die Art der Beobachtungsweise gegeben und das Einverständnis der betroffenen Bewohner und MitarbeiterInnen eingeholt. Herr A., der seine Belange selbst vertreten kann, gab eigenständig sein Einverständnis dazu und hat darum gebeten, Einsicht in die Beobachtungsprotokolle nehmen zu dürfen, was ihm von der Autorin zugesagt wurde. Bei Herrn B. wurde das Einverständnis des Vaters als rechtlichem Vertreter von dem Gruppenleiter der Wohngruppe eingeholt.

 

Für die Abfassung einer Studienarbeit, die veröffentlicht werden soll, und sei es auch nur im Bereich der Fachhochschule mussten mehrere Genehmigungen eingeholt werden. Für die Veröffentlichung konzeptioneller Gedanken mussten die jeweiligen EinrichtungsleiterInnen um ihre Zustimmung gebeten werden. Für die Beobachtungen der beiden behinderten Menschen wurden mit allen Beteiligten Vorgespräche geführt, Informationen über die Studienarbeit, sowie die Art der Beobachtungsweise gegeben und das Einverständnis der betroffenen Bewohner und MitarbeiterInnen eingeholt. Herr A., der seine Belange selbst vertreten kann, gab eigenständig sein Einverständnis dazu und hat darum gebeten, Einsicht in die Beobachtungsprotokolle nehmen zu dürfen, was ihm von der Autorin zugesagt wurde. Bei Herrn B. wurde das Einverständnis des Vaters als rechtlichem Vertreter von dem Gruppenleiter der Wohngruppe eingeholt.

 

Im Rahmen der Vorüberlegungen zu dieser Arbeit erstellte die Autorin zunächst eine Feldskizze  um die Bereiche zu verdeutlichen, in denen sich die Arbeit bewegen würde.

Abb. NN1 (feld II) bezeichnet das Lebensumfeld von Herrn A., Haus A. mit der Gruppe S., in dem er wohnt, sowie die Seniorentagesstätte in Haus St. In den Kapiteln 2.3 und 2.4 wird dieser Bereich näher beschrieben.

 

Abb. NN2 bezeichnet das Lebensumfeld von Herrn B. Er lebt in Haus B., auf der Gruppe I. und arbeitet in der Werktherapie in Haus Wt. Auch dieses Feld wird unter den Punkten 2.3 und 2.4 näher beschrieben.

 

Die MitarbeiterInnen sowohl von den Stationen als auch in der Werktherapie sowie in der Seniorentagesstätte (aus den Feldern II und III) zeigten ein großes Interesse an den Ergebnissen der Arbeit.

Bei den Vorgesprächen wurde deutlich, dass es einigen MitarbeiterInnen sehr daran gelegen war, dass ihre Arbeit nicht bewertet oder beurteilt werden würde. Die personelle Situation auf den Gruppen war zum Zeitpunkt der Beobachtungen recht knapp, in Haus B. musste ein Mitarbeiter von einer anderen Gruppe aushilfsweise Herrn B. betreuen. Verständlicherweise war dieser Mitarbeiter zunächst etwas verunsichert darüber, dass eine ihm fremde Person mit im Raum war und all sein Tun protokollierte. Für die Autorin war es eine gute Erfahrung, dass alle MitarbeiterInnen zu einer Zusammenarbeit bereit waren, nachdem ihnen Sinn und Zweck der Arbeit erklärt worden war.  Die Fragestellung, wie Betätigungen für Menschen mit schweren Behinderungen aussehen, ist besonders für die Mitarbeiter von Herrn B. von großer Bedeutung, da sich viele MitarbeiterInnen die Frage stellen, welche Betätigungen für Herrn B. sinnvoll und wünschenswert sind, ja was man ihm überhaupt an Betätigungen anbieten soll.

 

Die Beobachtungen wurden im Fall des Herrn A. auf zwei Tage verteilt, an einem Tag wurden die Beobachtungen in der Wohngruppe durchgeführt, eine Woche später die Beobachtungen in der Seniorentagesstätte, da es sonst für die Forscherin zu anstrengend gewesen wäre von morgens 7. 00 Uhr bis abends 21.00 Uhr Herrn A. zu beobachten.

Da Herr B. eine längere Mittagspause macht und der Besuch der Werktherapie nur am Vormittag stattfindet, war es bei ihm möglich, alle Beobachtungen an demselben Tag durchzuführen.

 

Einige der Gespräche, die Herr A. geführt hat, waren schwierig zu protokollieren, da es sich häufig um umfangreiche Konversationen mit Mitbewohnern handelte. Dort wo ein wörtliches Mitschreiben nicht mehr möglich war, wurde der Inhalt im Protokoll als indirekte Rede sinngemäß verkürzt dokumentiert. Die Autorin hat Herrn A. noch vor Abschluss der Arbeit die ihn betreffenden Protokolle vorgelesen und ihn um Korrektur oder Bestätigung gebeten.

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2.3    Das Lebensumfeld der untersuchten Personen

 

Herr A. (73 Jahre) und Herr B. (28 Jahre) leben in einer großen Einrichtung der Behindertenhilfe in Norddeutschland. Die vielen Wohnheime, Werkstätten, Schulen und Krankenhäuser sind in eine Ortschaft integriert, in der es zahlreiche Betriebe und auch viele private Wohnungen gibt. Die Einrichtung ist zwar immer noch eine ‚Anstalt‘, der Besucher kann davon allerdings kaum noch etwas erkennen, da nur noch sehr wenige Häuser von hohen Zäunen umgeben sind. Das Haus A., in dem Herr A. wohnt, ist zwar ein recht imposantes Gebäude mit sechs Wohngruppen zu je 7 – 9 BewohnerInnen, der große Garten ist aber frei zugänglich und die dort lebenden BewohnerInnen können selbst entscheiden, wo sie sich aufhalten möchten. Anders in Haus B., dem Wohnort von Herrn B. Die BewohnerInnen dieses Hauses benötigen in höherem Mass Aufsicht und Schutz. Hier sind die großen Gärten, die von den einzelnen Wohngruppen aus direkt zugänglich sind (in der 1. Etage gewöhnlich über eine Rampe) jeweils von einem Zaun umgeben, der es den BewohnerInnen ermöglicht, sich auch ohne die ständige Aufsicht durch eine Betreuungsperson alleine im Garten aufzuhalten. Die meisten Gruppen sind hier verschlossen, damit die in der Regel orientierungslosen und hilfebedürftigen BewohnerInnen sich nicht eigenständig auf Entdeckungsreisen begeben.

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2.3.1 Beschreibung von Haus A., dem Wohnort von Herrn A.

 

Allgemeines

(Dieser Abschnitt wurde auf der Grundlage eines vorhandenen Entwicklungsberichtes geschrieben)

Haus A. ist ein Fachkrankenhaus, ein großes, älteres Gebäude, das mehr als 50 BewohnerInnen auf 6 Gruppen beherbergt. In dem ehemaligen Haus für schwer-behinderte erwachsene Männer wohnen mittlerweile auch einige Frauen, wobei die Männer weiterhin in der Überzahl sind. Die Anzahl der BewohnerInnen schwankt zwischen 7 und 9 BewohnerInnen pro Gruppe. Es wird ein differenziertes Wohn- und Betreuungsangebot bereitgestellt. Zum Haus gehört ein großer, parkähnlicher Garten, der mit Gartenstühlen und Schaukeln ausgestattet ist. Auf dem Gelände befindet sich auch eine Werktherapie.

Das behindertengerecht ausgestattete Haus verfügt über Hilfsmittel, die die Pflege erleichtern und die den Bedürfnissen der BewohnerInnen hinsichtlich Selbständigkeit entgegen kommen. Das Haus ist über eine flache Rampe auch für RollstuhlfahrerInnen zugänglich. In der Nähe des Hauses befindet sich in ca. 200 m Entfernung die öffentliche Bushaltestelle.

 

Das Zimmer von Herrn A.

(Die folgenden Abschnitte wurden aufgrund eigener Beobachtungen verfasst.)

Das Zimmer liegt in einer Gruppe im Erdgeschoss. Herr A. nutzt das Zimmer alleine. Im Zimmer befindet sich ein Waschbecken, alle Utensilien zur Körperpflege wie Rasierapparat, Zahnbürste, Kamm und Handtücher sind in einer für Herrn A. erreichbaren Höhe angeordnet. Das Bett ist mit einem in der Einrichtung konstruierten Metallgestell versehen, an dem er sich hochziehen kann. Eine Schiene, die mit einer Kurbel versehen ist, ermöglicht ihm ein selbständiges Drehen im Bett.

Das Zimmer ist möbliert mit einem Sessel, einem Tisch, einem Regal sowie einem Schrank. Herr B. verfügt über einen Fernseher im Zimmer sowie eine kleine Musikanlage. Die Geräte sind mit Hilfe einer Fernbedienung vom Bett aus zu bedienen. Eine Klingel am Bett hilft ihm, sich bemerkbar zu machen. Die Wände des Zimmers sind mit von ihm hergestellten persönlichen Kunstwerken sowie Photographien geschmückt. Einige Steckspiele stehen im Regal. Der Türgriff zu seinem Zimmer wurde mit einer Griffverlängerung versehen, sodass Herr A. in der Lage ist, im Rollstuhl eigenständig sein Zimmer zu betreten oder zu verlassen.

 

Badezimmer, Sanitärbereich

Das geräumige rollstuhlgerecht eingerichtete Bad befindet sich neben seinem Zimmer. Herr A. teilt es mit einigen anderen Bewohnern. Das Bad hat ein Fenster, es ist hell und freundlich, mit Pflanzen geschmückt. Es ist mit einer Hubwanne und einer Toilette ausgestattet. Ein Lifter steht zur Verfügung und wird nach Benutzung in Herrn A.‘s Zimmer abgestellt. Diverse Schaumbäder und Lotionen zum Einreiben stehen auf der Ablage. Eine weitere separate rollstuhlgerechte Toilette befindet sich neben dem Bad.

 

Wohn- Esszimmer mit Küchenzeile

Der gemeinsame Aufenthaltsbereich der Gruppe vereint eine Küchenzeile mit integrierter Theke mit einem Ess- und einem Wohnbereich. Die Küchenzeile verfügt über einen Herd, Kühlschrank, Spülmaschine, eine Spüle sowie diverse Schränke, sodass kleine Mahlzeiten dort selbst zubereitete werden können. Das Mittagessen wird aus der Zentralküche geliefert. Frühstück und Abendessen werden auf der Gruppe von den Mitarbeitern vorbereitet.

Alle BewohnerInnen finden an ihren Stammplätzen an einem großen Tisch Platz.

Im selben Raum befindet sich eine geräumige Wohnzimmerecke mit mehreren Sofas und elektrisch verstellbaren Sesseln. Ein Fernsehgerät sowie eine Stereoanlage vervollständigen die Ausstattung. Der Raum ist hoch und hell, mit freundlichen Vorhängen vor den großen Fenstern, die sich zum Garten hin öffnen. Der Raum vermittelt eine ruhige, kommunikative Atmosphäre und ermöglicht es auch schwachen BewohnerInnen, am Geschehen teilzuhaben.

 

Flur

Im Flur stehen mehrere Sessel, die zum Verweilen einladen, sowie eine Kommode und ein Schrank, in dem u.a. die Insulinspritzen für Herrn A. in Reichweite aufbewahrt werden. Die eine Seite des Flures ist mit einem Handlauf versehen. Das Dienstzimmer befindet sich ganz am Ende des Flures. Mehrere Fenster öffnen sich vom Flur zum Hof und ermöglichen einen Blick auf den Haltepunkt der Busse, die die BewohnerInnen zur Arbeit oder in die Senioren-Tagesstätte abholen.

 

Foyer

Im Eingangsbereich des Hauses ist eine Sitzecke mittels Garderobenständer als Raucherecke abgeteilt. Hier im Foyer mündet die Treppe aus den anderen Etagen, ebenso befinden sich hier die Zugänge zum Garten, zum Fahrstuhl, sowie zum ehemaligen Speisesaal, der jetzt als Veranstaltungsraum genutzt wird. Somit ist das Foyer ein Durchgangsraum mit regem Publikumsverkehr. Es ist recht dunkel, da nur durch die Türen Licht herein kommt. Der Raum ist etwas verraucht und nicht sehr gemütlich.

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2.3.2 Beschreibung von Haus B., dem Wohnort von Herrn B.

 

Allgemeines

(Die Inhalte dieses Absatzes wurde in Auszügen einer Informationsbroschüre über das Haus entnommen). Haus B ist ein Wohnheim für Menschen mit schweren Behinderungen innerhalb der in 2.3 genannten Einrichtung.

Haus B. hat  64 Plätze. In 8 Wohneinheiten leben fünf bis neun Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zusammen. Es gibt Einzel- und Doppelzimmer, die auf Wunsch mit persönlichen Möbeln eingerichtet werden können. Außerdem stehen zur gemeinsamen Nutzung behindertengerecht ausgestattete Sanitärräume, eine Küche sowie Wohn- und Gemeinschaftsräume zur Verfügung. Darüber hinaus verfügt das Haus über einen Bewegungsraum, einen Snoezelenraum, einen Freizeitraum sowie einen großen umfriedeten Garten mit Trampolinen, Schaukeln und Sandkästen.

 

In dem Haus leben Kinder und Jugendliche mit schweren Mehrfachbehinderungen, Autismus und Epilepsie im Alter von sechs bis zwanzig Jahren, die dauerhafte stationäre pflegerische und pädagogische Betreuung über 24 Stunden benötigen.

 

Die BewohnerInnen werden von MitarbeiterInnenteams betreut, in denen im wesentliche folgende Qualifikationen vorhanden sind: ErzieherInnen, Pflegefachkräfte, HeilpädagogInnen, Heilerziehungs-PflegerInnen, Zivildienstleistende, Diakonische Helferinnen und PraktikantInnen. Gruppen übergreifend sind eine Motopädin (psychomotorische Förderung) und KrankengymnastInnen beschäftigt. Zwei Hausärzte des Ärztlichen Dienstes gewährleisten die medizinische Betreuung der Grunderkrankungen. Zusätzlich stehen den BewohnerInnen auch die anderen Fachdienste der Einrichtung zur Verfügung, z.B. der Psychosoziale Dienst, der Bewegungs- und Sporttherapeutische Dienst, das Freizeit- und Kulturzentrum, die Sprachtherapie, die Reittherapie, die Musiktherapie und der Seelsorgerische Dienst.

In der Einrichtung wird nach dem Bezugspersonensystem gearbeitet. Für jede BewohnerIn wird eine individuelle Betreuungsplanung durchgeführt, in der spezielle Entwicklungsziele festgelegt und überprüft werden. Herr B. lebt in einer Gruppe mit sieben weiteren schwerstbehinderten jungen Männern und Frauen, von denen vier RollstuhlfahrerInnen sind.

 

Zimmer von Herrn B.

(Die folgenden Abschnitte wurden aufgrund von eigenen Beobachtungen verfasst.)

Herr B. teilt sich ein relativ kleines Zimmer mit einem anderen schwerbehinderten jungen Mann. Das Pflegebett von Herrn B. ist mit dem Kopfteil an eine Wand gestellt, sodass man Herrn B. von beiden Seiten her pflegen kann. Auf dem Bett liegen verschiedene Lagerungshilfen für Herrn B., wie ein länglicher Schaumstoffblock, eine Lagerungsschlange sowie diverse Kissen. Das Bett des anderen Bewohners steht längs an einer Wand. Im Zimmer befinden sich außerdem zwei Kleiderschränke, drei Hängeschränke mit Pflegebedarf, zwei Nachttische und ein größerer radförmiger Ständer mit CDs. Ein Waschbecken ist in der Nähe des Eingangs an der Wand angebracht. Auf den Fensterbänken und auf den Nachttischen stehen diverse Pflegemittel, Blumen sowie Spielzeug. Eine große Leuchtfaserkugel steht am Fenster. Ein Radiorekorder  ergänzt die Ausstattung. Der Raum ist sehr eng und wenn die beiden Rollstühle in das Zimmer gefahren werden, ist kaum noch Platz und Bewegungsfreiheit für die Versorgung und Pflege vorhanden, eine Tatsache, die von den MitarbeiterInnen dieser Gruppe sehr bedauert wird. Aus diesem Grund befindet sich Herr B. nur nachts in seinem Raum, tagsüber wird er zum Schlafen in den Gruppenräumen speziell im Wohnbereich gelagert.

 

Wohnraum

Der Wohnraum, der der gesamten Gruppe zur Verfügung steht, ist sehr geräumig. Eine Sofaecke mit 6 – 8 Sitzplätzen in der Nähe des Eingangs ist um einen flachen Tisch herum gruppiert. An der Wand steht ein Fernseher. Daneben liegen mehrere Gymnastikmatten am Boden mit ‚Trilops‘ als Lagerungshilfen, diverse Kästen mit verschiedenem Spiel- und Greifmaterial stehen am Boden. Ein großes Ruhebett auf einem kniehohen Podest befindet sich in einer Ecke des Raumes an einem großen Fenster, dessen Luftraum zwischen den beiden Scheiben wie ein Aquarium mit einer Blasensäule, Fischen und Pflanzen dekoriert ist. Grosse niedrig angebrachte  Fenster geben in dem ebenerdigen Raum den Blick zum Garten frei. Eine Tür öffnet sich zur Terrasse und zu einem eingezäunten Garten, der verschiedene Spielgeräte, unter anderem eine Schaukel enthält. Ein spezielles Lagerungsbett, welches eigens für dieses Haus konstruiert wurde, steht an der verglasten Wand zur Küche. Alle Seitenteile des Bettes sind abnehmbar, Lagerungshilfen für die speziellen Bedürfnisse von Herrn B. liegen dort für ihn parat.

Auf einer Matte vor dem Fenster zum Garten befindet sich eine Art Zelthaus, in dem man liegen kann, aus verschiedenen taktilen Materialien zusammengesetzt. Mitten im Raum steht ein grosses Schaukelpferd, verschiedene Kuscheltiere, eine Bongo, Riesen -Plastik- Legos, Duplos sowie diverses Tast- und Greifspielzeug liegen auf Fensterbrettern und Matten sowie in Spielkisten. Unter der Decke sind Baustahlgitter angebracht, von denen z.B. ein Moskitonetz über dem Lagerungsbett, sowie eine ‚Stoffdusche‘ über der Weichbodenmatte hängen. Fensterbretter und Heizkörper sind mit Holz verkleidet. Die Wände sind weiß gestrichen, Bilder hängen nicht an den Wänden.

 

Essraum

Direkt neben dem Wohnraum befindet sich der Essraum als Verbindungsraum zwischen dem Wohnraum, der Küche sowie einer Art Snoezelenraum. Die Wandflächen zur Küche  sind verglast und ermöglichen einen Einblick in das Geschehen in der Küche. Der Raum ist länglich und nicht sehr gross. Als Durchgangsraum befinden sich Türen, bzw. Wandöffnungen an drei Seiten des Raumes. Grosse Fenster öffnen sich zum Garten hin. Um einen großen ovalen Tisch sind einige Stühle gestellt. Dazwischen ist Platz für die Rollstuhlfahrer ausgespart. Ein Rollstuhlfahrer wird zum Essen in einen Spezialstuhl umgesetzt. Der Raum ist zum Snoezelenraum hin offen und wirkt dadurch etwas größer.

 

Snoezelenraum / Ruhe- und Entspannungsraum

Dieser Raum wurde während meiner Anwesenheit von den BewohnerInnen nicht genutzt. Im Raum befindet sich ein Wasserbett, ein Spieltunnel am Boden sowie ein Schaukelstuhl. Der Raum ist etwas abgedunkelt.

 

Sanitärräume

Die behindertengerecht ausgestatteten Sanitärräume wurden während meiner Anwesenheit nicht von Herrn B. in Anspruch genommen. Die Körperpflege fand im Bett, bzw. auf dem Lagerungsbett statt.

 

Rollstuhl

Herr B. besitzt einen speziell für ihn gepolsterten und seinem Körper angepassten Rollstuhl, neigbar in verschiedene Positionen, ausgestattet mit einem Schafsfell, Fußpolstern, Sitzpolstern, Abduktionskeil  und Kopfpolster. Eine Sondenpumpe ist am Gestell befestigt.

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2.3.3 Beschreibung der Seniorentagesstätte, Haus St., Ort der tagesstrukturierenden Maßnahme von Herrn A.

 

(Die folgenden Abschnitte wurden aufgrund eigener Beobachtungen sowie auf der Grundlage eines Informationsgespräches mit einer Mitarbeiterin verfasst.)

 

Allgemeines

Die Räume der Seniorentagesstätte wurde zu Beginn dieses Jahres bezogen. Sie befinden sich in einem umgebauten, renovierten ehemaligen Wohnheim. Es sind noch nicht alle Umbaumaßnahmen abgeschlossen. Immer wieder ist Baulärm der Handwerker zu hören, die noch ausstehende Montagearbeiten verrichten. Die Räume sind noch nicht komplett eingerichtet, aber mit dem für den Tagesablauf notwendigen Mobiliar und Ausstattung versehen. Der Blumenschmuck auf den Fensterbänken sowie einige Dekorgegenstände sorgen bereits für eine freundliche Atmosphäre der Räume. Die weiß gestrichenen Wände sind noch ohne Bilder-schmuck. Alle Räume wirken hell, neu und geräumig. Die Flure sind breit und es gibt ausreichend Verkehrsfläche für die vielen BewohnerInnen, die auf Rollstühle angewiesen sind.

Insgesamt bietet das Seniorenangebot 60 SeniorInnen Plätze an. Davon sind 27 Plätze in der 1. Etage und 33 Plätze in der oberen Etage. Beide Ebenen sind durch einen Fahrstuhl, bzw. über das Treppenhaus erreichbar. Im unteren Bereich, der von Herrn A. besucht wird, stehen ein Bewegungsraum, ein Ruheraum, 2 miteinander verbundene Kreativräume mit einem Lagerraum, 2 Begegnungsräume, von denen einer mit einer Küche verbunden ist, ein Büro, eine geräumige Garderobe, in der auch Rollstühle und Gehwagen abgestellt werden,  sowie behindertengerecht gestaltete Sanitärräume zur Verfügung. Ein breiter Flur verbindet die Räume miteinander.

 

Der Kreativraum

Der Kreativraum, in dem Herr A. sich überwiegend aufhält, besteht aus zwei Räumen, die durch Wandvorsprünge voneinander getrennt sind, aber dennoch den Eindruck eines großen Raumes vermitteln. Zwischen den beiden Räumen befindet sich keine Tür, weshalb alle Aktivitäten, die in dem einen Raum stattfinden, auch im anderen Raum wahrgenommen werden. In jedem der beiden Räume befinden sich zu einem Rechteck zusammen gestellte Arbeitstische, an denen jeweils 6 Personen Platz finden können. Die Stühle sind gepolstert und teilweise mit seitlichen Armlehnen versehen. Die Räume sind durch große Fenster, die sich zu einem Garten hin öffnen, gut belichtet. Im vorderen Bereich, der eher für saubere Arbeiten gedacht ist, befindet sich eine Schrankwand, sowie ein Kiefernregal, in dem Beschäftigungsmaterial, Spiele sowie Gebrauchsgegenstände aufbewahrt werden. Einige BesucherInnen haben einen kleinen mit ihrem Namen versehenen Korb mit persönlichen Utensilien, wie z.B. Strickarbeiten im Regal stehen. Mehrere Webrahmen sowie ein Spinnrad ergänzen die Ausstattung dieses Raumes. Auf den Fensterbänken stehen Blumen, ein selbst gebautes Mobilé hängt vor dem Fenster. Der ‚Malplatz‘ von Herrn A. befindet sich in diesem Teil des Raumes. Sein höhenverstellbarer Tisch, der mit dem Rollstuhl gut unterfahrbar ist, steht vor dem Fenster. Die Tischplatte ist geneigt und an der vorderen Kante mit einer Leiste versehen, die das Herunterrutschen der Gegenstände verhindern soll. Die Beleuchtung erfolgt von vorne durch das Fenster, bzw. durch eine an der rechten Seite angebrachte Leuchte (Herr A. malt mit der linken Hand). Gelegentlich wird der Tisch auch von einem anderen Besucher benutzt, ist ansonsten aber vorrangig für Herrn A. bestimmt. In einem Pappkasten liegen verschiedene Buntstifte und Bleistifte. Einige Buntstifte haben einen dicken Durchmesser, die meisten sind bereits recht kurz. Herr A. sitzt beim Malen mit dem Rücken zur Gruppe. Er kann sich nur durch Abstoßen mit den Händen von der Tischplatte mit eigener Kraft dem Geschehen im Raum zuwenden. 

Im hinteren Bereich des Kreativraumes können auch ‚schmutzigere‘ Arbeiten verrichtet werden. In einer Ecke befindet sich ein großes Spülbecken, an den Wänden Stahlregale, in denen Material überwiegend für einfache Montage-Tätigkeiten, bzw. Briefmarken ausschneiden und sortieren gelagert wird.

 

Der Begegnungsraum

Zum Spielen mit Herrn F. wurde Herr A. in einen der Begegnungsräume gefahren. Dort befindet sich eine aus mehreren Tischen zusammengesetzte quadratische Tischfläche am Fenster, an denen 8 Personen Platz finden. Der Raum ist bislang noch mit einem Ecktisch sowie einer Glasvitrine  ausgestattet. Dieser Raum ist mit der Küche verbunden, die vom Raum her voll einsehbar ist. In der Küche befindet sich ein weiterer separater Arbeitsplatz, der von BesucherInnen genutzt werden kann, die etwas Abstand benötigen, aber dennoch am Geschehen beteiligt sein sollen. Auch hier sind bereits Blumen auf den Fensterbänken. Die Wände sind noch kahl, sollen aber demnächst auch mit Bildern versehen werden.

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2.3.4 Beschreibung der Werktherapie Haus Wt., dem Arbeitsplatz von Herrn B.

 

(Der folgende Abschnitt wurde aufgrund eigener Beobachtungen verfasst.)

Die Werktherapie Haus Wt. ist in einer Art altem Industriegebäude untergebracht. Der Zugang erfolgt ebenerdig über einen kleinen Vorhof. Nach Betreten des Gebäudes steht man sofort in einer grossen Werkhalle. Die Werktherapie besteht aus mehreren Abteilungen. Im vorderen Bereich, den Herr B. täglich besucht, befindet sich die Abteilung für Stuhlflechterei mit 9 Arbeitsplätzen sowie ein Teil der Kerzenproduktion mit 5 – 6 Plätzen in einer durch Raumteiler abgetrennten Nische. In der Stuhlflechterei werden alte Stühle repariert, geflochtene Sitzflächen und Rückenlehnen erneuert. Diese sowohl motorisch als auch kognitiv recht anspruchsvolle Arbeit, die viel Ausdauer erfordert, wird von MitarbeiterInnen mit einem vergleichsweise hohen Leistungspotential ausgeführt.

Herr B. ist ebenso wie sein Kollege Herr T. ein Mitarbeiter, der nicht in der Lage ist, solcherlei Tätigkeiten auszuführen. Seine ‚Arbeit‘ beschränkt sich hier auf eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft sowie auf spezielle Einzelförderung, die an anderer Stelle beschrieben wird. Da Herr B. nicht in der Lage ist, den ganzen Vormittag im Rollstuhl zu sitzen, wurde speziell für ihn in einer geschützten Ecke des Raumes ein Ruhebett aufgebaut. Ein darüber aufgehängtes Moskitonetz sorgt bei Bedarf für einen leichten Sichtschutz, da Herr B. an diesem Ort auch gewindelt wird. Lagerungshilfen sowie taktile Materialien sorgen für eine seinen Bedürfnissen angemessene Ausstattung. Für den zweiten schwerbehinderten Bewohner Herrn T. ist zusätzlich ein Lifter vorhanden. Herr B. wird aufgrund seines leichten Gewichtes in der Regel von einer oder zwei MitarbeiterInnen direkt auf die Liege gehoben. Für die Betreuung der beiden schwerbehinderten Mitarbeiter wurde eine zusätzliche Mitarbeiterin eingestellt, die aber während Urlaubs- und Krankheitszeiten auch für die anderen MitarbeiterInnen sowie für Kundenbetreuung und Überwachung der Produktionsarbeit zuständig ist.

Weitere Arbeitsräume, ein kleines Büro und Besprechungszimmer, ein Pausenraum mit kleiner Teeküche vervollständigen die Werkstatt. Der Sanitärbereich ist nicht entsprechend den Bedürfnissen zur Pflege schwerstbehinderter Menschen ausgestattet. Die Pflegemaßnahmen müssen, wie oben bereits erwähnt, im Arbeitsraum stattfinden, wodurch die Wahrung der Intimsphäre nur unzureichend gewährleistet ist. Jeder Kunde, der die Werkstatt in Zeiten der Pflege betritt, aber auch die anderen Mitarbeiter haben Einblick  in die Pflegemaßnahmen.

Da es sich bei der Integration von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen in den allgemeinen Arbeitsbereich der Einrichtung um ein relativ neues Konzept handelt, sind hierbei sicherlich noch nicht alle wünschenswerten Rahmenbedingungen gegeben, zumal sich diese Werktherapie in einem recht alten Gebäude befindet, welches ursprünglich zu anderen Zwecken gebaut wurde.

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2.4   Beschreibung der beiden untersuchten Personen

 

Im Folgenden sollen die beiden Männer, mit denen sich die Einzelfallstudien befassen, so beschrieben werden, dass dem Leser die Persönlichkeit der beiden deutlich wird. Dies betrifft sowohl ihre Charakterzüge, als auch auf ihre Fähigkeiten und die durch die Behinderungen bedingten Einschränkungen. Biographische Aspekte sowie die Schilderung der Krankengeschichte sollen das Bild abrunden.

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2.4.1   Beschreibung von Herrn A.

(Bei den Angaben handelt es sich um Auszüge aus der Stationsakte )

 

Diagnosen

Diabetes mellitus, Spastische Tetraparese rechts betont (in der Akte steht ‚links‘- betont, das ist falsch;  Anm. der Autorin), leichte geistige Behinderung

 

Lebenslauf

Herr A. wurde 1926 in Norddeutschland unehelich geboren. Sein Vater ist unbekannt. Die Mutter war taubstumm. Sie arbeitete in der Landwirtschaft. Herr A. wurde ‚normal‘ geboren, lebte bis zum Ende des dritten Lebensjahres bei der Mutter und der Tante. Über angeborene Geisteskrankheiten ist nichts bekannt. Herr A. wird als körperlich und geistig zurückgeblieben beschrieben. Er konnte nicht laufen. Die Parese des rechten Armes sowie beider Beine wird in Zusammenhang mit einer Polioerkrankung gesehen. Bis zum 4. Lebensjahr konnte er nur ‚Papa‘ und ‚Mama‘ sagen. Es liegt eine spastisch bedingte Sprachbehinderung vor. Damals beobachtete er kaum Gegenstände oder seine Umgebung. Er wurde als geistig behindert auf dem Entwicklungsstand eines einjährigen Kindes eingestuft. Er besuchte den Hilfskindergarten, in dem er nur malen erlernen konnte.

Im August 1930 wurde er in eine Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen, wo er bis zum März 1938 lebte. Vor dort wurde er in die Einrichtung verlegt, in der er auch heute noch lebt. Zunächst kam er in ein Haus für schwerstbehinderte Kinder, später, 1943, in ein Haus für schwerstbehinderte Erwachsene, wo er heute noch wohnt.

Im Alter von 13 Jahre erlitt er 1939 erstmals einen epileptischen Anfall (Gran mal). In der Regel traten seitdem 1 – 4 Anfälle im Monat auf. Der letzte Anfall wurde am 24. 12. 1963 dokumentiert. In dieser Zeit konnte Herr A. noch einige Schritte laufen, wenn er sich seitlich an einem Gegenstand festhielt und orthopädische Schuhe trug.

Zur Mutter bestand bis zu ihrem Tod immer ein enger Kontakt durch Briefe, Pakete und Besuche, genauso wie zu seiner Tante und zu seinem Onkel, die ebenfalls manchmal Pakete oder Briefe schickten oder ihn besuchten. Mittlerweile sind auch diese verstorben.

 

Heutige Lebenssituation

Herr A. lebt nun in einer Gruppe mit 8 männlichen und einer weiblichen Bewohnerin im Alter von 29 – 94 Jahren.

 

Beschäftigungen

Früher war er in der Beschäftigungstherapie mit Holzarbeiten beschäftigt, sowie zeitweise in der ehemaligen Großküche des Hauses als Küchenhilfe. Nun ist er Rentner und besucht die Seniorentagesstätte. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen ist dort das Malen.

 

Auswirkungen seiner Erkrankungen

Herr A. ist durch spastische Lähmungen unterschiedlicher Ausprägungen in den unteren und oberen Extremitäten vollständig an den Rollstuhl gebunden und durch eine ebenfalls spastisch bedingte Sprachbehinderung stark beeinträchtigt. Die Lähmungen, von denen auch die Rumpfmuskulatur betroffen ist, haben sich - nochmals verstärkt in den letzten Jahren – kontinuierlich verschlimmert. Herr A. ist kognitiv dazu in der Lage, die aus seinen Behinderungen resultierenden Einschränkungen wahrzunehmen und u.a. auch verbal zu realisieren. Emotional fällt es ihm allerdings immer wieder sehr schwer, die, vor allem durch seine Körperbehinderung gesetzten Grenzen und die ständige Abhängigkeit von der Hilfe anderer Menschen zu akzeptieren. Dies führt immer wieder zu Konflikten und dadurch notwendigen Konfliktklärungsprozessen. Zeitweise ist Herr A. aus besagten Gründen aber auch sehr in sich zurückgezogen und traurig verstimmt und benötigt von den Mitarbeitern viel unterstützende Motivationshilfe.

Neben seiner Körperbehinderung und seiner leichten geistigen Behinderung leidet Herr A. seit einigen Jahren an Diabetes Mellitus sowie an arterieller Hypertonie. 1985 wurde seine Gallenblase entfernt. Er wurde ebenfalls bereits einmal wegen eines mechanischen Ileus operiert. In den letzten Jahren traten Prostatabeschwerden auf. Wegen dieser Erkrankungen erhält er einige Medikamente. Eine Anfallsmedikation bekommt er nicht mehr.

Die gesetzliche Betreuung in Bezug auf Heilmaßnahmen wurde Anfang 1993 aufgehoben, da Herr A. in der Lage ist, grundlegende Entscheidungen sein Leben betreffend selbst zu fällen.

 

ADL

Ausführliche Angaben, zu den Fähigkeiten im ADL – Bereich, die zum Verständnis von Herrn A. wichtig sind, finden sich in Anlage 1. Sie werden an dieser Stelle nicht eingefügt, da es sich um die Ausarbeitungen anderer MitarbeiterInnen handelt.

 

Zielsetzungen

In einem Entwicklungsbericht aus dem Jahr 1995 werden für Herrn A. folgende Schwerpunkte des Betreuungsangebotes formuliert:

Grundpflege, aktivierende Pflege und gezielte Krankenbeobachtung, medizinische Betreuung, pädagogische Förderung und Unterstützung im lebenspraktischen Bereich, Hilfe zur Kommunikation bezüglich der Förderung und des Erhalts von Kontakten mit dem direkten und weiteren Umfeld. Durchführung und Begleitung von soziotherapeutischen und tagesstrukturierenden Maßnahmen, Freizeitgestaltung, die ständige Präsenz eines Mitarbeiters auch während der Nacht.

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2.4.2   Beschreibung von Herrn B.

 

Die Angaben sind in Auszügen der Stationsakte, sowie der Verlaufsakte der Werktherapie entnommen. Die Originalakten sind nicht auffindbar. Eine Ersatzakte wurde 1980 angelegt. Die Anfallsdokumentation  von 1992 (bis 1999 ?; Anm. d. Autorin) fehlt.

 

Diagnosen

Schwerste geistige Behinderung, aktive Epilepsie, cerebrale Bewegungsstörung, Tetraparese, extrapyramidales Syndrom, anamn. Athetose, Ätiologie: Frühkindliche Hirnschädigung (FKHS);

Diese Diagnosen wurden im Mai 1999 um weitere Diagnosen ergänzt:

Neigung zu Pneumonien; Barett Oesophagus bei Cardiainsuffizient und Hiatusgleithernie, Osteoporose, schwere Skoliose, Hüftluxation bds. (rechts wohl congenial mit Hüftkopfsnekrose). Port Explantation 1998 (Z.n. nekrotisierender Cholecystitis und biliarer Peritonitis; Z.n. Cholezystektomie, Splenektomie, Fundoplication, PEG – Entfernung und Enterostomie zur Anlage einer Jejunal-fistel, 1998; Anamn. Hypothyreose, damals Substitution; Unzureichender Mundschluss infolge UK- Deformierung, Thrombozytose.

Grundleiden: symptomatische, multifokale Epilepsie, schwerste spastische Tetraparese mit Kontrakturen, anamn. mit athetotischen Anteilen (z.Zt.. bis auf Kopfdrehung keine Bewegung mehr möglich) und schwerste Intelligenzminderung aufgrund FKHS.

 

 

Lebenslauf

Herr B. wurde 1972 geboren. Er ist seit seiner Geburt schwerstbehindert. Nach Aussagen der Mutter ist der Grund der Behinderung nicht bekannt. Es liegen keine krankengeschichtlichen Unterlagen aus der Zeit vor der Aufnahme in die Einrichtung vor. Bis zum 4. Lebensjahr lebte Herr B. bei seinen Eltern im Haus der Großeltern. Der Vater war Alleinverdiener, die Mutter pflegte unterstützt von der Großmutter Herrn B, das einzige Kind. Sie nahmen regelmäßig am Behindertenturnen sowie an Bewegungsgymnastik teil. Danach zog er mit seinen Eltern in ein behindertengerechtes neues Haus.

Seit Juli 1979, d.h. seit seinem 7. Lebensjahr, nach der Trennung seiner Eltern, lebt er in der Einrichtung, in der er heute noch ist. Die Eltern haben erneut geheiratet. Herr B. hat zwei Halbgeschwister, zu denen bislang kein Kontakt besteht. Der Vater hat seit dem 18. Lebensjahr die gesetzliche Betreuung von Herrn B. übernommen.

Von 1980 – 1997 besuchte Herr B. die zur Einrichtung gehörende Schule für Menschen mit schwersten Behinderungen. 1997  wurde er in die Werktherapie Haus Wt. aufgenommen.

 

Auswirkungen seiner Erkrankung

Herr B. ist bettlägerig, seine Mobilität ist extrem eingeschränkt, er kann selbständig nur noch den Kopf etwas drehen. Wenn er sich verspannt hat, ist er nicht in der Lage, dies Verspannungen selbständig zu lösen, dies geht nur mit Hilfe von Massage und Lagerung. Er ist in Pflegestufe I eingruppiert.

Hilfsmittel: Er ist auf einen speziell für ihn gefertigten Rollstuhl angewiesen, hat einen Badewannenlifter sowie eine Antidekubitusauflage. Bis 1996 trug er ein Stützkorsett.

Die symptomatisch, kryptogene fokale Epilepsie äussert sich in folgenden Anfallstypen: 

1.       Myoklonisch: Zuckungen im Augenbrauen- und Kinnbereich

2.       Tonisch: ‚eye-opening‘ mit Verdrehung der Bulbi nach rechts oben für ca. 15 –20 Sekunden

3.       Tonisch.: Streckung der Arme, z.T. Stöhnen oder kurzer Schrei, dann einige Sekunden Schnaufen, danach sofort oder in 1 Min. Ansprechbar.

4.       Grand- Mal

 

Eine verbale Verständigung mit Herrn B. ist nicht möglich. Er kann weder ‚ja‘ noch ‚nein‘ signalisieren.

 

In der Krankengeschichte fallen die sehr häufigen Pneumonien mit  jeweils längeren Krankenhausaufenthalten besonders in den letzten Jahren auf. Hinzu kommen die Komplikationen, die durch die PEG- Sonde entstanden waren; der Port wurde gegen eine Dünndarmsonde ausgetauscht, was ebenfalls mit längeren Krankenhausaufenthalten und Operationen verbunden war.  Aus Erzählungen der Mitarbeiter wird deutlich, dass Herr B. bereits mehrere Male dem Tod sehr nahe war und seine Gesundheit äußerst fragil ist.

 

ADL

Ausführliche Angaben, zu den Fähigkeiten im ADL – Bereich, die zum Verständ-nis von Herrn B. wichtig sind, finden sich in Anlage 2. Sie werden an dieser Stelle nicht eingefügt, da es sich um die Ausarbeitungen anderer MitarbeiterInnen handelt.

 

Abschlusszeugnis der Schule

Das Abschlusszeugnis der Schule ist sehr ausführlich und beschreibt vor allem seine sozialen Fähigkeiten sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit. In Bezug auf das Sozialverhalten wird hier deutlich, dass Herr B. ein geselliger Mensch ist, der gerne am Geschehen teil hat. Besonders sein ‚strahlender Blick‘ wird hervorgehoben.

In Bezug auf seine Wahrnehmung werden Reaktionen auf visuelle, akustische und olfaktorische Reize beschrieben. Einen weiten Raum nimmt die Beschreibung des taktil- kinestätischen Bereiches ein, seine Reaktionen auf Lagerung, Massage, Vibration, Bürsten und Ähnliches. Die Stärke seiner Reaktion wird hierbei als abhängig von der Intensität der Zuwendung  durch die MitarbeiterInnen beschrieben. Die Kommunikationsangebote von Herrn B., die sich in Lachen, Strahlen, Mimik, Lautieren oder auch in Verspannung und Weinen äußern, sollten nach Empfehlung der Schule von den MitarbeiterInnen als Ausdruck seiner Bedürfnisse verstanden werden und zu entsprechenden Reaktionen der MitarbeiterInnen führen.

 

Angaben zu Herrn B. aus der Werktherapie

Herr B. wurde im September 1997 in die Werktherapie in das Haus Wt. aufgenommen. Aufgrund seiner schwachen Konstitution ist er nur halbtags in der Werk-Therapie, jeweils vormittags von 9.00 bis 11.30 Uhr. Er war im letzten Jahr neun Monate lang krank und im Krankenhaus und muss sich nun erst wieder neu in der Werkstatt akklimatisieren. Da er von sich aus aktiv keine Tätigkeit aufnehmen kann, nimmt er als Zuschauer am Geschehen teil und erhält täglich ca. eine halbe Stunde  intensive Zuwendung durch die MitarbeiterInnen. Nach Aussage der Mitarbeiterin wird er voll von den ArbeitskollegInnen akzeptiert und integriert (vergl. dazu die Interviews mit den behinderten ArbeitskollegInnen, Anlage 5). Die Werktherapie soll Herrn B. eine Tagesstruktur vermitteln und ihm die Fahrt zur Arbeit sowie Aufenthalt als Wahrnehmungsanreize anbieten. Eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft soll somit ermöglicht werden.

 

In einer Stellungnahme zum Grund- und Aufbaukurs im Arbeitstrainingsbereich wurden 1998 folgende Trainingsziele und Trainingsinhalte für Herrn B. formuliert:

Trainingsziele:

-          Stabilisierung seiner gesundheitlichen Konstitution

-          Förderung seiner Wahrnehmungsfähigkeiten

-          Soziale Integration in die Arbeitsgruppe

Trainingsinhalte:

-          Festlegen eines kontinuierlichen Förderplans (Wochenplan)

-          Durchführung von Wahrnehmungsübungen

-          Vermittlung von Kontakten zu Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe

 

Der für Herrn B. erstellte Wochenplan sieht folgende Aktivitäten für ihn vor:

Montags:           10.20   Pflege, Spazieren gehen bei geeignetem Wetter und

Verfassung,

Dienstags:        10.00    Lagern im Arbeitsbereich, Krankengymnastik

Mittwochs:        10.00 – 10.30 Massage, Aromatherapie

Donnerstags:    10.30    Bewegungsförderung, Krankengymnastik, feinmotorische

Übungen wie Greifen

Freitags:           9.15 – 9.40 Visuelle Stimulation, Wachsraum, Kerzen abdrehen

In den nicht ausgewiesenen Zeiten nimmt Herr B. am Arbeits- oder Pausengeschehen durch Zusehen und Präsenz teil.

 

Mit Hilfe eines Erfassungsbogens zum personellen Aufwand für die Pflege und Betreuung in der WfB wurde die Einstellung einer zusätzlichen Betreuungsperson in der Werkstatt geltend gemacht und anerkannt. Die in diesem Bogen gemachten Angaben sind im Wesentlichen aus den vorherigen Angaben bekannt.

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3           Darstellung der Beobachtungen der Untersuchung

 

 

In einem ersten Schritt (Kapitel 3.1 und 3.2) sollen die in den Beobachtungsprotokollen (vergl. Anlage 3) festgehaltenen Aktivitäten für jeden der beiden Bewohner zusammenfassend in der Form eines erzählenden Berichtes über die Tagesabläufe dargestellt werden.

Danach erfolgt in den Kapiteln 3.3 und 3.4 eine Kategorienbildung hinsichtlich der Bezeichnung der verschiedenen Aktivitäten sowie eine grobe Ermittlung der dafür verwendeten Zeiten. Als Hilfsmittel für eine Auswertung der Beobachtungen, die in den Beobachtungsbögen protokolliert sind, wurde ein Raster entwickelt (vergl. Anlage 6.A für Herrn A. und 6.B für Herrn B.). Hierbei ging es zunächst darum, die Begriffe zu ordnen, mit denen Betätigungen beschrieben wurden und deren Häufigkeit und jeweilige Dauer zu erfassen.

Die Ergebnisse der Befragungen der MitarbeiterInnen (vergl. Anlage 4) sowie bei Herrn B. der ArbeitskollegInnen (vergl. Anlage 5) werden in den Kapiteln 4 eingearbeitet. Hierbei geht es zum einen darum, die Begriffe, die hier verwendet werden mit den von der Autorin gewählten zu vergleichen und zum anderen darum, Hinweise auf die möglichen Bedeutungen der Tätigkeiten zu erhalten.

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3.4   Ein Tagesablauf im Leben von Herrn A.

Der Bericht ist aus Sicht der Autorin geschrieben.

 

Am Morgen im Wohnbereich

Morgens um 6.45 Uhr klingelt der Wecker von Herrn A. In der Regel ist er wie an diesem Tag schon wach und wartet auf die MitarbeiterIn. Er steht gerne früh auf, nur am Wochenende schläft er etwas länger. Er kann nicht selbstständig aufstehen. Die Mitarbeiterin zieht ihm nach der Begrüßung den  Schlafanzug aus und setzt ihn in den Lifter. Heute entscheidet sich Herr A. für ein Bad. Bei meiner Ankunft in Haus A., sitzt Herr A. bereits in der Badewanne und hat nach einer kurzen Begrüßung und Einwilligung in meine teilnehmende Beobachtung, schon die erste Frage hinsichtlich einer kommenden Musikveranstaltung mit mir parat. Das Baden ist ebenso wie das anschließende Abtrocknen, Körperpflege und Anziehen gekennzeichnet von ausgiebigem verbalen Kontakt, ‚Small-Talk‘ über gemeinsame Aktionen und Erlebnisse aus dem Alltag des Bewohners. Nach dem Baden wird Herr A. in sein Zimmer zurück gefahren und ruht sich etwas auf seinem Bett aus. Die Mitarbeiterin erledigt in dieser Zeit andere Pflegearbeiten auf der Gruppe. Dann wird Herr A. mit einer gut riechenden Lotion eingerieben. Die Mitarbeiterin kommentiert ihr Handeln mit kleinen Späßen und Anmerkungen und bezieht Herrn A. immer wieder in die Konversation mit ein. Während des Anziehens unterhalten sich beide über anstehende Geburtstagsfeiern. Herr A. wird aufgefordert, zu entscheiden, welche Schuhe er anziehen möchte. Zwischendurch läuft die Mitarbeiterin kurz aus dem Zimmer, um den Rasierapparat eines anderen Bewohners anzustellen, sie kommentiert es als notwendiges Übel eines Pflegealltags. Nachdem Herr A. in seinem Rollstuhl sitzt, fährt er eigenständig zum Waschbecken, putzt sein Gebiss, wäscht sich den Mund und die Hände, um sich danach selbst zu rasieren. Es ist ihm wichtig, diese Arbeiten selbst erledigen zu können und er ist offensichtlich gut gelaunt und lacht mich über den Spiegel an.

Die Mitarbeiterin kontrolliert die Rasur und hilft ihm, das Gebiss einzusetzen. Ein hereinkommender weiterer Bewohner fängt eine Unterhaltung über seinen Geburtstag an. Ein lebhaftes Gespräch über Geburtstage, Gebisse und ausfallende Zähne wird von Herrn A. mit der Frage nach dem nächsten Termin für das Offene Singen mit mir unterbrochen. Dann fährt Herr A. in Richtung Essraum. Vor jeder Mahlzeit erhält er eine Insulinspritze, an die er die MitarbeiterInnen gegebenenfalls erinnert.

Das Frühstücksbrot für Herrn A. wird von einer Mitarbeiterin geschmiert und auf ein Einhänderfrühstücksbrett gelegt. Herr A. isst selbständig und benötigt nur Hilfe beim Schneiden und Portionieren des Essens. Während der ersten Viertelstunde finden Gespräche in erster Linie zwischen den Mitarbeiterinnen und mir statt. Herr A. bringt dann das Gespräch wieder auf das Offene Singen und stellt mir einige Fragen.

Nach dem Frühstück fährt Herr A. zur Toilette und bittet die Mitarbeiterin, seine Uhr aus seinem Zimmer mitzubringen. Herr A. benötigt Hilfestellung beim Toilettengang, kann aber Mithelfen, sich aus dem Sitzen hochzuziehen. Mit Hilfe einer am Rollstuhl befestigten Fahrradklingel signalisiert er, dass er die Hilfe des Mitarbeiters braucht. Herr A. muss danach den Rollstuhl wechseln, da der Fahrdienst nicht in der Lage ist, Herrn A. mit seinem Rollstuhl, in dem er sich eigen-ständig mit Hilfe eines Hebelarmes noch fortbewegen kann, in die Seniorentagesstätte zu transportieren. Weder die Mitarbeiter noch Herr A. sind darüber sehr glücklich, da er dadurch einen großen Teil seiner noch verbliebenen Selbständigkeit verliert. Herr A. wird vor das Haus zum Kleinbus gebracht. Auf meine Frage, was er in der Seniorentagesstätte mache, antwortet er: ‚spinnen‘. Für eine Nachfrage, was er damit meine,  bleibt keine Zeit.

 

Vormittag in der Seniorentagesstätte

Der Besuch der Autorin in der Seniorentagesstätte erfolgt aus Zeit- und Kraft-gründen an einem anderen Tag, es wird aber der Einfachheit halber so verfahren, als würde es sich um denselben Tag handeln, da die Aktivitäten in der Seniorentagesstätte an diesem Tag genauso hätten ablaufen können, wie an dem Tag, an dem die Beobachtung durchgeführt wurde.

 

Herr A. steht bei meiner Ankunft mit anderen BewohnerInnen im Flur der neuen Seniorentagesstätte und wartet darauf, begrüßt und in Empfang genommen zu werden. Herr A. erzählt mir, dass er auf seinen Freund Herrn F. aus seiner Wohngruppe warte. Herr A. würde auch extra wegen mir am Nachmittag kommen, damit ich meine Arbeit über ihn schreiben könne, sonst käme er eigentlich nicht, da es zu anstrengend wäre. (Eine Rückfrage meinerseits bei den Mitarbeitern ergibt, dass er nachmittags normalerweise auch immer kommt). Die Mitarbeiterin fragt Herrn A. nach seinen Wünschen für diesen Vormittag und er entscheidet sich zu malen. Herr A. wird noch mal darauf hingewiesen, dass seine Teilnahme an der Seniorentagesstätte freiwillig sei und er selbst entscheiden könne, ob er am Nachmittag kommen möchte oder nicht, woraufhin Herr A. seine Entscheidung nochmals bekräftigt. Herr A. vertieft sich in seine Tätigkeit und lässt sich auch durch neu hinzu kommende BewohnerInnen nicht ablenken. Ich stelle mich kurz den anderen BewohnerInnen vor und bitte sie um deren Einverständnis, den Tage beobachten zu dürfen.

Herr A.  ist so sehr in sein Malen vertieft, dass ihn sein Schnupfen nicht stört. Ich frage ihn, ob er ein Taschentuch habe und helfe ihm, es zu suchen. Viertel nach neun ist Herr F., der Freund angekommen. Herr A. wird darüber informiert, malt aber zunächst ungestört weiter. Eine Mitarbeiterin informiert die Gruppe über den Kauf eines Geschenkes für eine Kollegin, die ein Baby bekommen hat und lässt eine Karte zum Unterschreiben herum gehen.  Herr A. hört aufmerksam zu, auch als die Mitarbeiterin ihm die Symbolik der Karte genau erklärt, malt dabei aber weiter. Selbst ein heftiger Streit zweier BewohnerInnen bringt ihn  nicht aus der Ruhe. Er betrachtet sich jeden Stift genau, bevor er die Farbe auswählt. Nachdem ihm die Stifte alle einmal ausgekippt und in den Schoss gefallen sind, grinst er, sammelt sie wieder ein und äußert dann, dass er nun mit Herrn F. ‚Mensch ärgere dich nicht‘ spielen möchte. Er beschließt, das Bild später weiter zu malen, betitelt es als ‚kleiner Mensch mit Blumen und Vase‘ und bietet es der Mitarbeiterin zum Geschenk an.

Dann wird Herr A. von der Mitarbeiterin in den Begegnungsraum gefahren, wo Herr F. bereits das Spiel aufbaut. Herr F. ist blind, sodass ich mich kurz bei ihm bemerkbar mache und ihn um sein Einverständnis für die Beobachtung bitte. Da Herr F. mich kennt, hat er nichts dagegen.

Die anderen BewohnerInnen am Tisch schauen sich Bilder der letzten Karnevalsfeier an und können Bestellungen aufgeben. Auch Herr A. bestellt einige Bilder. Er bietet seinen Malplatz nun seinem Tischnachbarn an. Mittlerweile hat Herr F. das Spiel aufgebaut (Version für Blinde) und die beiden beginnen zu spielen. Beide bilden ein eingespieltes Team und gehen sehr sensibel auf ihre jeweiligen Behinderungen ein. Herr A. macht sich durch leichtes Schlagen auf die Hand bei Herrn B. bemerkbar und führt auch einmal dessen Hand zum richtigen Stein, wenn dieser einen ungünstigen Stein setzt. Herr F. kommentiert sein Spiel laut, sagt die gewürfelten Zahlen an. Herr A. muss sich das Brett immer wieder so zurechtrücken, dass er die Figuren erreichen kann. Danach stellt er es jedesmal wieder in die Ausgangsposition zurück, sodass Herr F. sich orientieren kann. Beide sind sehr konzentriert bei der Sache, finden aber dennoch Raum, um sich zu unterhalten. Herr F. summt ein Lied vor sich hin und führt eine kurze Unterhaltung mit mir. Herr A. bemerkt, dass er schon drei Steine drinnen habe, was Herr F. ihm gerne gönnt. Zwischendurch hat es den Anschein, als sei Herr A. kurz mal eingenickt, er merkt erst, dass er an der Reihe ist, als Herr F. zum zweiten mal ziehen will.

Zu Beginn der Kaffeepause bittet die Mitarbeiterin Herrn F., ein Lied auf der Mundharmonika zu spielen; dies veranlasst Herrn A. dazu, seinen Wunsch zu äußern, auf der Trommel zu begleiten. Während die Mitarbeiterin die Trommel holt, beenden die beiden das Spiel, wobei Herr A. gewinnt und es befriedigt registriert.

Mittlerweile sitzen alle um den Tisch und trinken einen Kaffee. Herr A. fragt mich, ob es im neuen Freizeitzentrum das ‚Offene Singen‘ weiterhin gäbe. Ich berichte über die Fortschritte der Arbeit und die neuen Möglichkeiten des Zentrums. Herr F. spielt einen Tanz, Herr A. begleitet ihn auf der Trommel. Alle singen ein gemeinsames Lied, und fassen sich dabei an den Händen.

Nach der Frühstückspause verwickelt Herr F. mich in ein Gespräch über die Veränderungen in der Einrichtung, über Mitarbeiter, mein Studium und den Inhalt meiner Studienarbeit. Herr A. beteiligt sich am Gespräch bis zwei BesucherInnen den Raum betreten. Deren Unterhaltung ist so laut, dass das Gespräch unterbrochen werden muss und erst nach Verabschiedung der BesucherInnen wieder aufgenommen werden kann. Das Gespräch geht mit unterschiedlichen Themen dann noch eine Weile weiter, bis Herr A. kurz nach elf zur Toilette gebracht wird. Im Anschluss daran findet noch eine kleine Abschlussrunde mit einem Lied statt, was Herr A. wieder mit der Trommel begleitet. Ein Zivildienst-leistender bringt Herrn A. zum Kleinbus, um ihn ins Wohnhaus zurück zu fahren.

 

Mittagspause im Wohnbereich

Gleich nach der Ankunft wechselt Herr A. mit Hilfe der Mitarbeiterin seinen Rollstuhl. Dies ist ihm so wichtig, dass er mich darauf hinweist, es aufzuschreiben. Er wartet dann auf seinen Freund Herrn F, dessen Zimmer neben dem Zimmer von Herrn A. liegt. Herr F. hält sich am Rollstuhl von Herrn A. fest und dieser leitet ihn sicher in den Essbereich. Auch hier weist Herr A. mich explizit darauf hin, dies aufzuschreiben. Danach fährt er zurück in den Flur, um seine Spritze zu holen. Herr A. benutzt einige Hilfsmittel beim Essen, wie Tellerranderhöhung und Griffverdickungen am Besteck. Er benötigt Hilfestellung beim Portionieren sowie beim Öffnen von Gefäßen. Herr A. kommt auch jetzt wieder auf das Thema ‚Offenes Singen‘ zu sprechen und wer ihn dorthin bringen kann. Da einige MitarbeiterInnen in Urlaub oder krank sind, scheint es schwierig mit der Begleitung zu werden. Die MitarbeiterInnen unterhalten sich über dienstliche Belange. Verschiedene Gespräche laufen durcheinander. Herr A. spricht mit Herrn F. über Probleme mit dem Fahrdienst und Freiwilligkeit des Besuches der Seniorentagesstätte. Etwa eine halbe Stunde lang werden noch verschiedene Themen am Tisch besprochen. Herr A. signalisiert das Ende der Mahlzeit und fährt dann Herrn F. zu seinem Zimmer.  Nach dem Toilettengang wird Herr A. noch etwas gewaschen und eingecremt. Zur Korrektur seiner Sitzposition zieht er sich selbst mittels eines Handlaufes und Fußbrettes im Flur in seinem Rollstuhl zurecht. Dann fährt er mit Herrn F. ins Foyer, weil dieser eine Pfeife rauchen möchte. Herr A. ‚passt auf‘, dass Herr F. sich dabei nicht verbrennt, er selbst raucht nicht. Herr A. teilt der Mitarbeiterin mit, dass er nach dem Besuch der Seniorentagesstätte wieder an der Strasse vor dem Wohnheim sitzen wolle, um zu schauen, und dass er gerne eine Decke für die Beine hätte. Die Mitarbeiterin setzt sich kurz dazu und es werden Herrn A. die Ergebnisse der letzten Dienstbesprechung, die seine ‚Zu- Bett- geh- Zeit‘ betreffen, mitgeteilt. Gegen 13.30 Uhr wird er für den Besuch der Seniorentagesstätte angezogen, in den anderen Rollstuhl gesetzt und nach draußen gefahren .

 

Nachmittag in der Seniorentagesstätte

Bei meiner Ankunft sitzt Herr A. mit einigen anderen SeniorInnen im Flur und wartet darauf, in Empfang genommen zu werden. Ich schenke ihm eine versprochene Videokassette über einen Theaterauftritt, bei dem er mitgewirkt hat. Er trägt eine für den heutigen Tag etwas dünne Jacke. Da die MitarbeiterInnen noch mit dem Empfang der anderen BewohnerInnen beschäftigt sind und es mir unangenehm ist, mit Herrn A. im Flur zu warten, helfe ich ihm aus der Jacke. Er möchte an seinem Bild weiter malen und so frage ich die Mitarbeiterin, ob es in Ordnung sei, Herrn A. an seinen Malplatz zu fahren. Es gibt keine anderen Pläne und so beginnt Herr A. sogleich mit dem Malen. Er ist nicht sehr gesprächig und malt mit hoher Konzentration. Häufig dreht er das Blatt, um auch alle Seitenränder bemalen zu können. Er bittet mich, zwei Stifte anzuspitzen und heruntergefallene Stifte wieder aufzuheben. Die Sonne hat sich mittlerweile soweit gedreht, dass sie ihm ins Gesicht scheint. Noch sind keine Jalousien angebracht und Herr A. bittet mich, seinen Rollstuhl so zu stellen, dass die Sonne ihn nicht mehr blendet. Ich nutze die Zeit, in der Herr A. an seinem Bild malt zu einem Gespräch mit der Mitarbeiterin über das Konzept der Seniorentagesstätte. Wir bleiben dazu im Raum sitzen, sodass alle mithören und sich beteiligen können. Gegen 15.00 Uhr wird das Kaffeetrinken vorbereitet und die Mitarbeiterin bittet Herrn A. das Bild zu beenden. Ich frage ihn noch mal nach dem Titel. Nun heißt es ‘Engel mit einem Blumenstrauß und mit einer Mütze‘. Ich bitte Herrn A., eine Kopie des Bildes als Deckblatt in meine Arbeit nehmen zu dürfen. Herr A. ist einverstanden. Da die Mitarbeiterin mit dem Ausfüllen meines Fragebogens beschäftigt ist, helfe ich an ihrer Stelle beim Ausschenken des Kaffees mit. Ich frage Herrn A., wo sich hier die Schürzen befinden, die er beim Essen umbindet. Er weiß es nicht, aber ich finde sie nach kurzem Suchen selbst im Regal. Herr A. weist mich darauf hin, dass ich ihm die Schürze nicht richtig umgebunden habe und sie sich gelöst hat. Nach dem Kaffeetrinken wird Herr A. zur Toilette gebracht, danach angezogen und in den Flur zum Abholen gebracht. Gegen 15.30 Uhr wird er von einem Zivildienstleistenden abgeholt.

 

‚Feierabend‘

Um 16.00 Uhr treffe ich Herrn A. an der Strasse vor seinem Wohnhaus sitzend an. Er beobachtet die Vorgänge und genießt das warme Wetter. Ich setze mich auf eine Bank in der Nähe und beobachte das Geschehen. Herr A. amüsiert sich offensichtlich über einen Bewohner, der mit einem laufenden Kassettenrekorder vorbei kommt. Herr A. wiederholt den Text des Liedes. Auf eine Ansprache durch eine Passantin, die er wohl kennt, erfolgt keinerlei Reaktion. Mir selbst wird kühl und ich frage Herrn A., der nur mit einer dünnen Jacke bekleidet an der Strasse sitzt, ob ihm nicht kalt sei. (Er hat nicht, wie es abgemacht war, eine Decke dabei). Herr A. bittet mich daraufhin, ihn ins Haus zu schieben. Da die Tür vor dem Fahrstuhl besetzt ist, schlägt er vor, um das Haus herum zu fahren und den Haupteingang zu benutzen. Auf der Gruppe helfe ich ihm aus der Jacke und fahre ihn ins auf seinen Wunsch hin ins Esszimmer.

Ein Mitarbeiter stellt Herrn A. ein paar Kekse hin, Kaffee möchte er nicht. Herr A. verwickelt mich in ein Gespräch über die Musikgruppe und die künftige Arbeit des Freizeitzentrums. Ich nutzte die Zeit, um ihm die  Frage zu stellen, was für ihn Arbeit bedeutet. Arbeiten mache er nicht, gibt er mir zur Antwort, nur Beschäftigungen. Auf die Frage, was das für ihn sei, nennt er, ‚Spülmaschine ausräumen‘ und  ‚Samstags die Post austragen‘. Dies ist für ihn wichtig, weil er dann ‚auf die anderen Gruppen‘ geht. Auf meine Frage, was denn richtige Arbeit sei, nennt er die Tätigkeiten der Mitarbeiter wie z.B. ‚Leute baden, auf’s Klo bringen und so‘. Früher habe er auch gearbeitet und Holz geschliffen. Bei der Frage, was für ihn Freizeit sei, nennt er als erstes seinen einwöchigen Jahresurlaub, in dem er eine Reise machen kann. Dann erwähnt er noch das Theaterspielen und dass er so etwas mit mir ja schon einmal gemacht habe.

Unter Selbsthilfe kann er sich nicht viel vorstellen, aber er findet es wichtig, dass ihm geholfen wird bei Dingen, die er nicht mehr alleine machen kann. Auf meine Frage, was er noch alleine machen könne, antwortet er ‚Malen‘ und ihm fällt ein, dass er mir vor einigen Jahren einmal ein Bild zum Geburtstag gemalt hat.

Auf die Frage, was ihm bei der Pflege durch die Mitarbeiter wichtig ist, nennt er als erstes, dass der Mitarbeiter sich mit ihm unterhalten soll, auch hier zählt er das auf, was er noch alleine machen kann. Auch dass er sich ausruhen kann ist ihm erwähnenswert. Dann frage ich ihn noch, wie er das nennt, wenn er Herrn F. beim Laufen hilft. Er ist darauf recht stolz, dass er durch seine Mithilfe die Mitarbeiter entlasten kann. Zum Abschluss frage ich ihn noch nach seiner Schulbildung. Er sei nur zwei Jahre zur Schule gegangen und habe dort nur Malen gelernt. Als Erwachsener habe ein Mitarbeiter ihm einige Buchstaben in grosser Schrift beigebracht. Wichtig ist ihm noch, seine Mitgliedschaft im ‚Mundharmonika - Chor‘ zu nennen, dem er bereits seit  vielen Jahren angehört. Wie lange, kann er nicht sagen, das sei ja alles aufgeschrieben.

Mittlerweile hat sich im Gruppenraum eine schläfrige Stimmung breit gemacht. Es ist 17.30, der Fernseher läuft, ein Bewohner ist eingeschlafen, ein anderer gähnt, ein Dritter brummelt laut vor sich hin. Herr A. schaut gelegentlich zum Fernseher, kann aber von seinem Platz aus nichts sehen, richtig fernsehen möchte er aber auch nicht. Ein Mitarbeiter hat Kaffee gekocht. Ich frage Herrn A., wie er das Nichtstun jetzt bezeichnet? ‚Ich bin faul,‘ gibt er mir zur Antwort. Ein Bewohner schäkert mit einer Mitarbeiterin, alle lachen. Dann bringt sie Herrn A. zur Toilette. Es wird Zeit, zum Freizeitzentrum zu gehen, wo Herr A. heute an einer Musikgruppe teilnimmt. Die Mitarbeiterin schiebt Herrn A. in seinem Rollstuhl, wir gehen zu Fuß. In der Musikgruppe spielt Herr A. die Trommel und wechselt eigenständig die Tempi und Lautstärken, je nach Charakter des Liedes. Meine Anwesenheit veranlasst meinen Kollegen zu einigen Scherzen und es wird eine lustige Stunde. Immer wieder schaut Herr A. zu mir rüber und passt auf, dass ich alles aufschreibe. Bei einem der Liebeslieder spielt Herr A. mit sehr viel  Gefühl mit, dass es meinem Kollegin und mir sofort auffällt und für uns beide Anlass zu einem neckischen Kommentar gibt. Herr A. ist unermüdlich bei der Sache. Auf dem viertelstündigen Rückweg unterhalte ich mich mit der Mitarbeiterin, da eine Unterhaltung mit Herrn A. bei dem schnellen Tempo zu schwierig ist. Die Mitarbeiterin ist froh, dass Herr A. nicht in seinem adaptierten Rollstuhl sitzt, der recht schwer zu schieben ist.

Um 19.15 Uhr sind wir wieder auf der Gruppe angelangt. Herr A. nutzt eine kurze Begegnung mit mir im Flur, drückt mir die Hand und bedankt sich bei mir dafür, dass ich den Bewohnern immer Freude mache. Ich bin gerührt und überrascht. Dann äußert Herr A., dass er Hunger habe. Er möchte sich nun sein Geburtstagsessen von einem Bekannten holen, bei dem er zur Feier eingeladen war. Da es ihm wichtiger war, zur Musikgruppe zu fahren, hatte er sich das Essen warm stellen lassen. Während der diensthabende Mitarbeiter das Essen organisiert gratuliert Herr A. Herrn H. – G., der gerade in das Foyer herunter kommt, zum Geburtstag. Bei dieser Aktion bin ich etwas behilflich, da Herr H.-G. blind ist. Herr A. hat nicht mitbekommen hat, dass der Mitarbeiter bereits das Essen holt und es gibt eine kleine Konfusion, da nun auch die andere Mitarbeiterin das Essen holen möchte. Ich kann die Missverständnisse aufklären und Herr A. fährt ins Esszimmer. Die anderen haben schon gegessen und sitzen vor dem Fernseher, der so laut gestellt ist, das man sich kaum unterhalten kann. Ein Bewohner steht am Tresen der Küche und fragt, ob ich all die vielen Seiten für die Schule schreibe und ob das ein Tagebuch über das Baden sei. Nach dem Abendessen nimmt Herr A. sich selbst die Schürze ab und versucht, ein Taschentuch aus einer Schublade zu holen, um sich den Mund abzuwischen. Da er es ganz alleine nicht schafft, helfe ich etwas mit. Dann fährt er ins Foyer, wo sich die beiden blinden Männer Herr F. und Herr H.- G. bereits angeregt unterhalten. Bevor Herr A. sich dazu setzt, korrigiert er selbst noch mal seine Sitzhaltung im Rollstuhl mit Hilfe des Handlaufs im Flur. Es klappt erst nach mehreren Anläufen. Herr A. macht sich bei Herrn F. durch einen leichten Schlag auf die Hand bemerkbar. Es folgt eine lange Unterhaltung hauptsächlich zwischen Herrn F. und Herrn H.-G., in die Herr A. immer wieder versucht einzusteigen. Herr F. geht auch immer wieder mal kurz auf Herrn A. ein, aber Herr H.- G., der sehr schwerhörig ist, bringt das Gespräch immer wieder auf seine Themen. Er regiert ärgerlich, als er merkt, dass Herr F. auch auf Herrn A. eingeht und zieht das Gespräch wieder an sich. Herr F. lässt sich dann ganz auf Herrn H.- G. ein. Herr A. hört zu. Um 20.30 Uhr fragt Herr A. mich, wie lange ich bleibe. Ich antworte ihm, dass ich solange bliebe, bis ich mit ihm fertig sei. Er entgegnet, dass er um 21.00 Uhr ins Bett ginge und ich dann nach Hause gehen könne. Das Gespräch zwischen Herrn F. und Herrn H.- G. geht noch etwa eine Viertelstunde weiter, bis Herr F. den Wunsch äußert ins Bett zu gehen. Er ruft nach Herrn A., der wieder etwas zurück fährt, um Herrn F. mitzunehmen. Herr A. fährt auf sein Zimmer und beginnt, sein Gebiss zu reinigen. Er bittet mich, ihm beim Ausziehen zu helfen, aber ich erkläre ihm , dass das nun der Mitarbeiter machen würde und dass ich nun nach Hause gehen würde. Ich verabschiede mich und fahre mit dem Gefühl nach Hause, einen sehr langen Tag hinter mich gebracht zu haben. Ich bin erstaunt über die Energie, die Herr A. hat und darüber, dass er trotz seiner 73 Jahre einen so langen Tag ohne einen Mittagsschlaf durchhält.

Ich habe den Eindruck, dass Herr A. einen erfüllten, für ihn vermutlich befriedigenden Tag erlebt hat, in dem er zwar auf die Hilfe anderer angewiesen war, aber den er durch seine Persönlichkeit und seine Wünsche entscheidend mit geprägt hat. Ein Tag, an dem er sich ‚betätigt‘ hat, den er in einigen Bereichen selbst bestimmen konnte und der überwiegend auf seine Bedürfnisse abgestimmt war. Leider sind solche Tage wie dieser nicht immer für ihn möglich, da es zunehmend schwieriger wird, einen Mitarbeiter abzustellen, um ihn zu besonderen Freizeitaktivitäten wie der Musikgruppe zu begleiten. Wie wichtig ihm solche Aktivitäten sind, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er das Musizieren immer wieder in den Gesprächen mit mir thematisiert. Ich bin dankbar für diesen Tag mit Herrn A., der mich einen tiefen Einblick in sein Leben hat nehmen lassen, ein Leben, einerseits  geprägt durch einen starken Willen und  Eigeninitiative, andererseits durch eine hohe Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen anderer, was mir besonders in seiner subtilen Beziehung zu Herrn F. sehr deutlich wurde, wo diese beiden Männer in einer jahrzehntelangen Freundschaft gelernt haben, auf die jeweiligen Behinderungen in einer so diskreten Weise Rücksicht zu nehmen, wie ich es sehr selten gesehen habe.

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3.5   Ein Tag im Leben des Herrn B.

 

Morgens in Haus B.

Der Tag beginnt für Herrn B. bereits morgens um 6.00 Uhr, wenn ihm über seine Sonde die Medikamente verabreicht werden. Meistens schläft er dann noch. Als ich um 7.00 Uhr komme, ist ein Mitarbeiter mit der Pflege von Herrn B. betraut, der normalerweise auf einer anderen Gruppe arbeitet und ein wenig irritiert über meinen Besuch ist. Nach einem kurzen Gespräch über den Zweck meiner Beobachtungen willigt er dann in die Beobachtungen ein. Herr B. muss vollständig gepflegt werden, er kann selbst nicht dabei mithelfen. Herr B. schläft beim Waschen, Windeln und Anziehen immer wieder ein. Die beiden Mitarbeiter, die jeweils einen Bewohner im Zimmer pflegen, unterhalten sich viel miteinander und stellen auch mir einige Fragen. Bis Herr B. im Rollstuhl sitzt sind etwa 30 Minuten vergangen. Herr B. hat nur wenige Reaktionen gezeigt wie Husten und Wegdrehen des Kopfes bei der Mundpflege. Beim Warten im Wohnzimmer auf das Frühstück, während die anderen BewohnerInnen von den MitarbeiterInnen fertig gemacht werden, schläft Herr B. wieder ein. Gegen 8.00 Uhr öffnet Herr B. die Augen und fängt an, die Aktivitäten der anderen Menschen um sich herum zu beobachten. Da Herr B. mittels einer Sonde ernährt wird, nimmt er auch an den Mahlzeiten nur als Zuschauer teil. Heute hat er wenig Interesse am Zuschauen und schläft mit abgewandtem Kopf immer wieder ein. Zwischendurch ist immer wieder einmal ein kurzes Zucken der Augen und Zungenbewegungen zu beobachten. Ich vermute, dass es sich hierbei um epileptische Anfälle handelt, die bei ihm in dieser Form auch in der Krankengeschichte beschrieben sind.

Um 8.15 Uhr werden einige der BewohnerInnen zur Schule abgeholt. Herr B. wird in den Wohnraum geschoben und schläft dort wieder ein. Als eine Mitarbeiterin ihn anspricht, Körperkontakt durch Reiben seiner Knie mit ihm aufnimmt, öffnet er die Augen, wendet ihr den Kopf zu, strahlt sie an und gibt Geräusche von sich. Er zeigt erstmals an diesem Tag eine deutliche Reaktion. Nun bleibt Herr B. wach, beobachtet die Vorgänge im Raum bis ihn gegen kurz vor 9.00 Uhr zwei Zivildienstleistende zur Werkstatt abholen. Beim Verladen in den Kleinbus erwidert Herr B. zum erstenmal an diesem Tag meinen Blickkontakt.

 

Vormittag in der Werktherapie in Haus Wt.

Bei meiner Ankunft in der Werktherapie sehe ich wie Herr B. von einer Praktikantin in Empfang genommen und begrüßt wird. Ich selbst führe zunächst ein Gespräch mit der Mitarbeiterin der Gruppe, die wenig informiert über mein Vorhaben war. Die Informationen aus dem Vorgespräch waren wohl in erster Linie an die an diesem Tag erkrankte Mitarbeiterin weitergegeben worden. Die Mitarbeiterin war jedoch sofort mit meinem Vorhaben einverstanden. Einige der behinderten MitarbeiterInnen sind mir aus meiner Arbeit bekannt und so fällt es mir leicht, einen zwanglosen Kontakt zur Arbeitsgruppe herzustellen. Herr B. verbringt seinen ‚Arbeitstag‘ in der Korbflechterei, wo in erster Linie Stühle repariert werden. Diese Arbeit ist handwerklich recht anspruchsvoll und so handelt es sich bei den dort arbeitenden Bewohnern um Menschen, die über recht viele Fähigkeiten verfügen. Herr B. ist ebenso wie Herr T., ein anderer schwerbehinderter Bewohner aus Haus B. ein ‚teilnehmender‘ Mitarbeiter. Dies ist konzeptionell in dieser Einrichtung ein recht neuer Ansatz, Menschen mit sehr schweren Behinderungen eine weitergehende Integration zu ermöglichen. Sie sollen durch ihr ‚Dabeisein‘ am leben der Gemeinschaft teilhaben. Ein produktiver, aktiver Beitrag mit einem wirtschaftlich verwertbaren Ergebnis kann aufgrund der Schwere der Behinderung dieser Menschen nicht erwartet werden. So gestaltet sich der Vormittag in der Werktherapie bei Herrn B. aus den Elementen Beobachtung und Teilhabe als seiner ‚Arbeit‘, sowie den notwendigen Pflegemaßnahmen wie Wickeln und Lagern und aus Zeiten der Einzelförderung, die in einem mit täglich wechselnden Inhalten gemäss einem Wochenplan. Jedesmal wenn Herr B. von der Mitarbeiterin angesprochen wird, erwidert er den Blickkontakt, strahlt und wendet ihr seinen Kopf zu. Zwischendurch schließt Herr B. immer wieder die Augen.

In der Frühstückspause übernehmen behinderte BewohnerInnen den Transport von Herrn B. in den Pausenraum. So wird der Kontakt gefördert. Nach der Frühstückspause beginnt die Einzelförderung, für die zusätzliche Personalanteile in der Gruppe genehmigt wurden. Herr B. wird dazu auf einer eigens im Arbeitsraum aufgestellten hüfthohen Liege gelagert. Die Mitarbeiterin massiert Herrn B. mit einem Massagegerät und unterhält sich mit ihm. Herr B. genießt dies ganz offensichtlich und hält den Blickkontakt zu ihr. Dies dauert etwa 20 Minuten. Danach wird Herr B. auf der Liege gelagert, beobachtet eine Weile das Geschehen und schläft dann ein. Ich nutze die Zeit für ein Gespräch mit den anderen BewohnerInnen, bis die Mitarbeiterin Herrn B. windelt und zum abholen fertig macht. Immer wieder kommentiert sie dabei ihr eigenes handeln und tritt auf diese Weise in einen verbalen Kontakt zu Herrn B., der diesen Kontakt durch Blicke und vereinzelte Laute erwidert. Gegen 11.30 Uhr wird er vom Fahrdienst abgeholt.

(In der Zeit von 11.30  bis 12.00 Uhr findet keine Beobachtung statt, da ich ein Abschlussgespräch mit der Mitarbeiterin führe.)

 

Mittag in Haus B.

Um 12.00 Uhr werden alle BewohnerInnen der Gruppe zum Essen versammelt. Auch Herr B. wird wieder dazu geschoben. Die Mitarbeiterin streicht etwas von dem Nachtisch (Eis) auf die Zunge von Herrn B,. um ihm so einen taktilen Reiz zu verschaffen und ihn auch am Genuss des Essens zu beteiligen. Herr B. dreht nach meiner Beobachtung an diesem Tag erstmals den Kopf nach rechts über die Mittellinie hinaus und lacht. Dann verfolgt er mit seinem Blick einen laut herum schreienden Bewohner. Mein Eindruck ist, dass er um so intensiver reagiert, je stärker die Reize sind. Er reagiert mit Lachen auf den Körperkontakt durch eine Mitarbeiterin, die ihn auf dem Bauch rubbelt.

Nach dem Mittagessen räumen die MitarbeiterInnen auf, Herr B. schaut zu und wird zwischendurch immer wieder mal kurz angesprochen. Herr B. hält seine Augen offen und ich habe den Eindruck, dass er aktiv das Geschehen im Raum verfolgt und auch den Kopf  in die Richtung der handelnden Personen dreht. Seine Sondennahrung wird ausgewechselt und die Medikamente für ihn vorbereitet. Die Mitarbeiterin lagert ihn im Wohnbereich auf seiner Liege und wechselt die Windeln. Sie kommentiert ihr Handeln. Eine zweite Mitarbeiterin nimmt kurzen Körperkontakt zu Herrn B. auf, er lacht. Die Mittagsmedikation wird ihm durch die Sonde verabreicht. Danach erfolgt wieder Mundpflege. Anders als am Vormittag reagiert er diesmal mit Lachen und Strahlen auf die Zahnbürste und die Zitronenstäbchen. Dann wird er seitlich gelagert, und um ihm in der Mittagspause eine Anregung zu geben, stellt die Mitarbeiterin ein riesiges Bilderbuch vor Herrn B. auf.

(Gegen 12.50 Uhr verlasse ich die Gruppe, um Einsicht in die Akten in der Werktherapie zu nehmen.)

 

Nachmittag und Abend in Haus B.

Als ich gegen 16.15 Uhr wieder in die Gruppe komme, sitzt Herr B. bereits wieder in seinem Rollstuhl.  Da noch ein zweiter Mitarbeiter an diesem Nachmittag auf der Gruppe ist, schlägt die Mitarbeiterin einen Spaziergang vor. So nehmen wir zwei RollstuhlfahrerInnen und eine gehfähige Bewohnerin mit und gehen hoch zum Wald. Etwa eine Stunde lang laufen wir durch den Ort und den angrenzenden Wald auf zum Teil recht matschigen Wegen. Den Bewohnern macht es offensichtlich Spaß, zumal es die ersten wärmeren und sonnigen Tage in diesem Frühjahr sind. Am Ende des Spazierganges strahlt Herr B. auch mich erstmals intensiv an, worüber ich mich sehr freue. Die Reifen der beiden Rollstühle müssen abgewaschen werden, bevor wir wieder in die Gruppe fahren und ich beteilige mich an der Arbeit. Ich merke, wie es mir zunehmend schwerer fällt, mich auf meinen Beobachterposten zurückzuziehen, weil das, was ich bei Herrn B. an Aktivitäten beobachten kann, sich mit wenigen Sätzen zusammenfassen lässt. Das Geschehen findet um ihn herum, als Alltagshandlungen in seiner Umwelt statt. Herr B. kann lediglich entscheiden, ob er dieses Geschehen auf sich einwirken lassen will, oder ob er lieber ‚abschaltet‘ und einschläft. Während und auch nach dem Abendessen beobachtet Herr B. die Aktivitäten der Personen in seiner Umgebung. Er wird jedoch zunehmend müde und beginnt zu gähnen. In den Wohnraum geschoben schaut er nicht zum Fernseher, obwohl Herr B. so steht, dass er zur bevorzugten Seite nach links schauen könnte. Sein Kopf ist im Gegenteil nach rechts gedreht und nach hinten überstreckt. Eine Mitarbeiterin nimmt Herrn B. aus dem Rollstuhl und setzt ihn zu sich auf den Schoss auf dem Sofa. Herr B. strahlt und lacht. Beim Verabreichen der Medikamente durch die Sonde macht er Kaubewegungen. Ich unterhalte mich ein wenig mit der Mitarbeiterin. Herr B. genießt diesen 10 minütigen Moment des intensiven Körperkontaktes offensichtlich. Nachdem er in den Rollstuhl zurück gehoben wurde, schaut er in den Fernseher. Kurze Zeit später, es ist mittlerweile 19.00 Uhr wird er zu Bett gebracht. Die Mitarbeiterin kommentiert dabei all ihr Handeln und bemerkt auch Herrn B. ‘s zunehmende Verspannung, aus der er sich selbst nicht aktiv lösen kann. Auch mein Versuch, einige Griffe aus der Bobath - Behandlung anzuwenden, bleiben erfolglos. Auf die Mundpflege reagiert Herr B. diesmal wieder mit Ablehnung. Die Mitarbeiterin bemerkt, dass Herr B. dies gar nicht möge, woraufhin ich ihr erzähle, dass es am Mittag ganz anders gewesen sei. Es bleibt unklar, woran das liegt. Herr B. stöhnt und einige Tränen laufen über sein Gesicht. Die Mitarbeiterin äußert ihre Betroffenheit darüber. Sie stellt leise meditative Musik an und stellt ein visuell stimulierendes Spielzeug vor ihn auf den Nachttisch. Herr B. wurde gut gelagert und beginnt zusehends sich zu entspannen, er wird schläfrig und die Augen beginnen zuzufallen. Ich verabschiede mich von ihm und verlasse den Raum gegen 19.30 Uhr.

An diesem Abend fühle ich mich auf eine andere Weise müde, als zuvor bei den Beobachtungen von Herrn A. Es waren hier eher die vielen Zeiten des Wartens, in denen nicht viel geschah, die mich schläfrig machten und es mir schwer viel, nur zuzusehen, ohne aktiv werden zu können. Ich empfand es als ziemlich unnatürlich, im Wohnzimmer alleine mit Herrn B. zu sitzen und ‚nichts‘ zu protokollieren, weil ‚nichts‘ geschah. Im Gegensatz dazu waren die Momente erträglich, in denen wir spazieren gingen, in denen ich einige Handgriffe beim Tisch decken erledigte oder in denen Gespräche mit den MitarbeiterInnen stattfanden. Obwohl Herr A. und Herr B. beide als Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen bezeichnet werden, liegen Welten zwischen ihrer Lebensweise.

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3.3 Betätigungskategorien von Herrn A.

 

Die in den Beobachtungsbögen in der Spalte ‚Aktivität‘ spontan von der Autorin verwendeten prägnanten Begriffen wurden als erster Anhaltspunkt für eine Kategorienbildung hinsichtlich des Betätigungsverhaltens von Herrn A.  verwendet. Die jeweiligen Beobachtungen gaben weitere Hinweise, um eine Tätigkeit eindeutiger festzulegen. In einer Übersicht (vergl. Anlage 6.A und 6.B) wurden die einzelnen Beobachtungssequenzen analysiert hinsichtlich der Bezeichnungen für die einzelnen Aktivitäten. Diese Aktivitäten wurden neun Kategorien zugeordnet, die im Folgenden beschrieben werden. Eine ungefähre zeitliche Dauer der einzelnen Tätigkeiten wurde ermittelt, um eine grobe Übersicht zu erhalten, wieviel Zeit Herr A. im Laufe eines Tages mit den unterschiedlichen Aktivitäten verbringt. Ebenso wurde unterschieden zwischen Tätigkeiten, bei denen Herr A. selbst aktiv handelt und solchen, bei denen er passiv ‚behandelt‘ wird. In einer weiteren Spalte wurde festgehalten, bei welchen Aktivitäten Herr A. verbal beteiligt ist.

Im Wohnbereich verwendete die Autorin folgende Begriffe:

-          ‚Pflege‘ für Tätigkeiten, die in den Bereich der Selbstversorgung fallen, hierzu gehören Waschen, Körperhygiene, Anziehen,  Toilettengang, sowie die medizinische Versorgung,

-          ‚Transport‘ für Wege, die er alleine oder mit Hilfe im Rollstuhl oder im Bulli zurück legt,

-          ‚Mahlzeit‘ für die Haupt- und Zwischenmahlzeiten,

-          ‚Freizeit - Nichtstun‘ für Zeiten, in denen Herr A. keiner besonderen Tätigkeit nachgeht, sondern wartend oder beobachtend in seinem Rollstuhl sitzt, hierunter wurde auch die Zeit der seiner Beobachtungen am Straßenrand gefasst;

-          ‚Freizeit - Freundschaft‘ für Zeiten, die er im Gespräch oder Beisammensein mit anderen Bewohnern, insbes. Mit seinem Freund Herrn F. verbringt,

-          ‚Freizeit - Musik‘ für Zeiten, in denen er aktiv Musik macht, in der Regel mit seiner Trommel.

Bei den meisten Tätigkeiten benötigt er Hilfestellungen ist aber aktiv mit beteiligt. Seine Aktivitäten im Bereich Freizeit- Freundschaft kann er fast vollständig alleine initiieren und durchführen.

Es fällt auf, dass bei fast allen Aktivitäten Gespräche geführt werden. Nur beim Transport im Kleinbus bzw. der Fahrt durch den Ort im Rollstuhl und vereinzelt bei den Mahlzeiten finden so gut wie keine Gespräche statt.

In der Zeiterfassung (vergl. Anlage 6.3  Tabelle 1) wird deutlich, dass Herr A. etwa ein Drittel seiner Zeit in der Wohngruppe mit unterschiedlichen Freizeitaktivitäten verbringt. Für Pflege und Transport werden täglich jeweils gut zwei Stunden aufgewendet, für die Mahlzeiten etwa eineinhalb Stunden.

 

Im Seniorenbereich kommen zu den bereits oben genannten Kategorien noch die drei Kategorien ‚Freizeit – Spiel‘, ‚Freizeit- Malen‘ und ‚Gespräch- Besprechung‘ hinzu. Die Kategorie ‚Freizeit- Freundschaft‘ wurde hier nicht gewählt. Hierbei hat die Autorin folgende Betätigungen diesen neuen Kategorien zugeordnet:

-          ‚Freizeit- Spiel‘ bezeichnet die Zeit, in der er mit seinem Freund Herrn F. Mensch- ärgere- dich- nicht spielt. Diese Aktivität könnte ebenfalls auch der Rubrik ‚Freizeit- Freundschaft‘ zugeordnet werden, wenn sie mehr unter dem Beziehungsaspekt als unter dem Aktionsaspekt betrachtet würde.

-          ‚Freizeit- Malen‘ bezeichnet die produktive Tätigkeit des Herrn A., ein Bild zu erstellen.

-          ‚Gespräch- Besprechung‘ bezeichnet die Momente, in denen in der Regel die MitarbeiterInnen Gespräche über bestimmte Themen initiieren oder die Tagesgestaltung besprechen.

Bei der Betrachtung der Selbständigkeit fällt auf, dass er häufiger eigenständig handelnd seine Zeit verbringt und durch den geringen Anteil an Pflege weniger oft ‚behandelt‘ wird. Aber auch hier ist sein Handeln fast durchgängig von Gesprächen begleitet.

In der Seniorentagesstätte verbringt Herr A. die meiste Zeit, mehr als ein Drittel,  mit Malen, aber auch immerhin knapp eine Stunde mit Gesprächen und Besprechungen (vergl. Anlage 6. 3 Tabelle 2). Die anderen Aktivitäten verteilen sich auf die zweite Hälfte der verfügbaren Zeit. Auffällig ist, dass die Zeit des Nichtstuns hier nur etwa 2% beträgt.

 

Fasst man die Aktivitäten von Herrn A. zusammen, indem alle unterschiedlichen Freizeitaktivitäten unter dem Begriff ‚Freizeit‘ subsummiert werden und ergänzt man die Tabelle um die Zeit, die er mit Schlafen verbringt, so ergibt sich die Übersicht über die Tätigkeiten von Herrn A. im Laufe von 24 Stunden (vergl. Anlage 6.3 Tabelle 3). Er zeigt hierbei ein recht ausgewogenes Profil mit 36% Schlaf, 28% Freizeit und weiteren 36% in den Bereichen Pflege, Transport und Mahlzeiten. (Zum Vergleich: In der Berliner Altersstudie wird für die Gruppe der 70- 84 jährigen Männer ein Anteil von 42% der Wachphase für Freizeitaktivitäten ermittelt und etwa 36% für die Selbstversorgung. Ruhezeiten während des Tages machen dort etwa 12% aus (BALTES M. M. et al.1999, 530)).

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3.4.         Betätigungskategorien von Herrn B.

 

Für die Einteilung der Betätigungen von Herrn B. verwendete die Autorin nur zum Teil dieselben Kategorien wie bei Herrn A. die Bereiche ‚Pflege‘ und ‚Transport‘ sowie ‚Nichtstun, Warten‘, ‚Spazieren gehen‘ und ‚Schlafen‘ konnten hier eindeutig identifiziert werden. Schwieriger wurde es mit der Bezeichnung der restlichen Aktivitäten und Kategorien. Diese ließen sich am ehesten mit therapeutisch / pädagogischen Begriffen beschreiben wie: ‚Blick- Kontakt‘, ‚Körper- Kontakt‘, ‚verbaler Kontakt‘, ‚Taktile Stimulation‘, ‚visuelle Stimulation‘ und ‚Teilhabe- Zuschauen‘. Diese Begriffe und Kategorien ließen sich sowohl im Wohn- als auch im Arbeitsbereich verwenden.

Bei den letzt genannten Begriffen handelt es sich immer um Aktivitäten, bzw. Reize, die von den Personen der Umgebung, überwiegend von den pflegenden MitarbeiterInnen initiiert wurden und auf die Herr B. mit einer Reaktion antwortete. In fast allen Fällen waren diese Reaktionen positiver Art und äußerten sich in ‚Strahlen‘ der Augen, Erwidern des Blickkontaktes, Kopfdrehen, Lachen,  Geräuschen und Lauten. An zwei Stellen, jeweils morgens und abends bei der Mundpflege zeigte Herr B. Ablehnung durch Verziehen des Gesichtes und Wegdrehen des Kopfes.

Auch hier wurde die jeweilige Dauer der einzelnen Aktivität grob erfasst, um später daraus ein Zeitverwendungsprofil zu erstellen (vergl. Anlage 6.6 Tabellen 1-3). Da Herr B. keine ‚Tätigkeiten‘ im Sinne produktiver Aktivitäten durchführen kann, wurde unter dem Begriff ‚Aktivität‘ erfasst, ob Herr B. in einer für die Autorin erkennbaren Weise auf die Umgebung reagiert hat. In den ‚Wachphasen‘ des Herrn B. sind solche Aktivitäten deutlich erkennbar und äußern sich in den oben aufgeführten Reaktionen.

In der Rubrik ‚Ansprache‘ wurde die Häufigkeit (26 x) registriert, mit der Herr B. von den Personen seiner Umgebung angesprochen wurde. Ein Gespräch im eigentlichen Sinne konnte nicht dokumentiert werden, da Herr B. sich verbal nicht äußern kann, sondern lediglich durch Laute Freude oder Kummer auszudrücken imstande ist. In der Rubrik ‚Gespräch‘ wurde die Häufigkeit (28 x) ermittelt, in der MitarbeiterInnen sich in Gegenwart von Herrn B. miteinander unterhalten haben, sodass Herr B. an diesem Gespräch als Zuhörer teilhaben konnte.

Wertet man die Aktivitäten des Herrn B. im Laufe eines Tages unter Einbeziehung der nächtlichen Ruhephase aus (vergl. Anlage 6.6. Tabellen 4-6) so stellt man sofort fest, dass er einen erheblichen Anteil seiner Zeit, nämlich insgesamt 64%, d.h. 15 ¼  von 24 Stunden mit Schlafen oder Ruhen verbringt. Der direkte Anteil an Pflege liegt mit 2 Stunden täglich bei 8%.  Zeiten für Transport schlagen mit 1 ¼ Stunden zu Buche. Er verbringt etwa 12% seines Tages, d.h. knapp 170 Minuten mit dem Beobachten von Aktivitäten anderer Menschen und hat somit Anteil an deren Leben. Bei dem Spaziergang handelte es sich um eine nicht alltägliche Aktivität, die etwa eine Stunde in Anspruch nahm. Die restliche Zeit verteilt sich zu jeweils sehr geringen Prozentsätzen, insgesamt knapp eine Stunde  auf unterschiedliche Formen des Kontaktes und der Stimulation sowie Zeiten des Nichtstuns, in denen er in der Regel alleine in einem Raum stand und darauf wartete, abgeholt zu werden (knapp 40 Minuten).

Aus dieser Aufstellung wird schnell deutlich, wie sehr sich das Leben des Herrn B. von dem des Herrn A. unterscheidet. Herr A. ist in der Lage, das einzufordern, was ihm für sein Leben wichtig erscheint und ermöglicht sich so die Verwirklichung zahlreicher von ihm gewünschter Aktivitäten. Herr B. hingegen ist vollständig darauf angewiesen, dass die MitarbeiterInnen und die Personen seiner Umgebung auf ihn zugehen und Dinge für und mit ihm machen, von denen sie annehmen, dass sie ihm gut tun. Seine Reaktionen zeigen manchmal, ob das, was man mit oder für ihn getan hat, ihm gefallen hat.

Handelt es sich nun bei den bei Herrn B. und Herrn A. beobachteten ‚Aktivitäten‘ um ‚Betätigungen‘ im Sinne ergotherapeutischer Definitionen? Diese Frage soll im nächsten Kapitel  beantwortet werden.

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4           Auswertung der Ergebnisse der Beobachtungen

 

Im 1. Kapitel im 2. Abschnitt wurden mehrere Kriterien genannt, die Voraussetzung dafür sind, dass eine Aktivität als ‚Betätigung‘  bezeichnet werden kann. So gilt es nun die Fragen zu beantworten,

1.       ob Herr A. und Herr B. ein Ziel oder eine Absicht mit ihren Betätigungen verfolgen?

2.       ob ein Zusammenhang besteht zwischen den Aktivitäten und der Umwelt, in der die Aktivität stattfindet?

3.       ob die Aktivitäten von den Ausführenden benannt und identifiziert werden können und

4.       ob die Aktivitäten für Herrn B. und Herrn A. von Bedeutung sind?

Da es nicht möglich ist, alle beobachteten Aktivitäten von Herrn A. und Herrn B. auf diese Fragen hin zu untersuchen, sollen in den folgenden Abschnitten einzelne Aktivitäten als Beispiele herangezogen werden.

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4.1           Ziele und Absichten der beobachteten Aktivitäten

 

Bei Herrn A. ist bei den meisten Aktivitäten ein klares Ziel oder eine Absicht zu erkennen: er rückt sich im Rollstuhl zurecht, um besser sitzen können; er hilft bei seiner Pflege mit, weil es ihm ein Gefühl von Selbständigkeit gibt;  er hilft seinem blinden Freund beim Gehen, um die Mitarbeiter zu entlasten; er malt ein Bild und spielt Trommel, weil es ihm Spaß macht. Herr A. hat selbst Ziele und Absichten, die er formulieren kann und für deren Realisierung er sich einsetzt. Für seine Aktivitäten können eindeutige Ziele und Absichten benannt werden.

Schwieriger ist die Beantwortung dieser Frage bei Herrn B.. Auf den ersten Blick äußert er keine Ziele und Absichten. Er sagt nicht, dass er spazieren gehen will. Er schreit nicht, wenn er Hunger hat. Ziele und Absichten werden stellvertretend für ihn von den MitarbeiterInnen formuliert. Sie wissen aus Erfahrung, wann Herr B. gewindelt werden muss. Die Zeiten für die Medikamente und das Wechseln der Sondennahrung sind festgelegt. Am eindeutigsten lässt sich noch Ablehnung und mangelndes Wohlbefinden bei Herrn B. feststellen. Wenn ihm etwas nicht gefällt, so kann Herr B. das Gesicht verziehen, den Kopf wegwenden, die Augen schließen, sich verspannen oder auch weinen. Im Umkehrschluss erkennen die MitarbeiterInnen dann, dass es ihm nicht gut geht bei dieser Aktivität oder dass ihm etwas fehlt. Andererseits wirken sein Strahlen, sein Blickkontakt oder sein Lachen als Verstärker für die MitarbeiterInnen und signalisieren ihnen, dass das, was sie gerade gemacht haben, Herrn B. gefallen hat. Ist ein Mitarbeiter sensibel für diese Signale, wird er häufiger das tun, was bei Herrn B. positive Reaktionen auslöst. Auf diese Weise kann Herr B. ein wenig Einfluss darauf nehmen, wie Menschen mit ihm umgehen. Welche Aktivitäten für und mit Herrn B. gemacht werden, hängt wesentlich von der Phantasie, der Zeit und der Erfahrung der MitarbeiterInnen ab. Für die Autorin stellt sich die Frage, welche Ziele und Absichten Herr B. für sein Leben hat. Sicherlich sind es andere Ziele als die der meisten Menschen. Für Herrn B. ist es vermutlich wichtig, wenig Schmerzen zu haben, sich nicht zu erkälten, seine Muskeln lockern zu können, Zuwendung zu erfahren und im Rahmen seiner Möglichkeiten am Leben der Gemeinschaft teilzuhaben. Er genießt es, „wenn etwas los ist“. Alle Aktivitäten, die helfen, diese Ziele zu erreichen stellen im weitesten Sinn ‚Betätigungen‘ für Herrn B. dar. Die Handelnden sind hierbei andere Menschen, die stellvertretend für Herrn B. tätig werden, um ihm Erfahrungen zu ermöglichen, die vermutlich in seinem Sinne sind.

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4.2           Zusammenhänge der beobachteten Aktivitäten mit dem Umfeld

 

Das Lebensumfeld von Herrn A. und Herrn B. ist stark strukturiert und sehr geschützt. Beide leben in Einrichtungen, die was die Ausstattung betrifft, sehr an die Bedürfnisse von Menschen mit schweren Behinderungen angepasst sind. Zahlreiche Hilfsmittel, Adaptationen und Vorrichtungen erleichtern die tägliche Pflege und ermöglichen zumindestens bei Herrn A. die Erhaltung der Selbständigkeit soweit es noch geht. Alle Aktivitäten von Herrn A. zeichnen sich durch einen klaren Bezug zu der ihn umgebenden Realität aus. Viele Handlungen sind routiniert und eingespielt. Herr A. weiß sehr genau, welche Hilfe er für einzelne Aktivitäten benötigt und setzt alles daran, diese Hilfe auch zu bekommen. Herr A. ist zielgerichtet in seinem Handeln muss sich zwangsläufig auf sein Umfeld einstellen. Er bedauert es, dass manche seiner Wünsche nach Betätigungen nicht umgesetzt werden können, weil nicht genügend Personal zu Verfügung steht, um ihm alles zu ermöglichen.

Die Aktivitäten von Herrn B. hingegen lassen sich häufig als ‚Reaktionen‘ auf seine Umwelt, insbesondere auf Kontakte durch seine Mitmenschen bezeichnen. Die begrenzte Umwelt, in der er sich bewegt, wurde zum Teil auf seine Bedürfnisse hin eingerichtet. Die Liegen im Arbeitsraum und im Wohnzimmer wurden speziell für ihn errichtet. Somit stehen sie in einem Zusammenhang mit der ‚Aktivität‘ ‚Ausruhen‘. Aber auch hier ist Herr B. nur indirekt Handelnder, da andere diese Anpassung der Umwelt an seine Bedürfnisse für ihn vorgenommen haben. Herr B. hat an seinem Arbeitsplatz beispielsweise wenig Einfluss auf die Produktivität der Korbflechterei, dennoch wirkt er auf das Umfeld allein durch seine Präsenz ein, wie sich aus dem Interview mit einer der behinderten Mitarbeiterinnen schließen lässt (vergl. Anlage 5). Diese Mitarbeiterin hatte anfangs wenig Verständnis für Herrn B., berichtet sogar, dass sie ihn ausgelacht habe. Nun freue sie sich, wenn er lacht und sie anstrahlt. Man müsse ihm helfen. Die Mitarbeiterin kann deutlich machen, dass in ihr eine Veränderung stattgefunden hat bezüglich ihrer Einstellung zu Herrn B. Dies ist wohl kaum auf seine Produktivität zurückzuführen, sondern wohl auf den Beziehungsaspekt, der als eigene Qualität der ‚Aktivität‘ von Herrn B. zu sehen ist. Offensichtlich bewirkt Herr B. etwas durch seine Präsenz, seine Hilfsbedürftigkeit, aber auch durch seine strahlenden Augen und sein Lachen.

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4.3          Benennung und Identifikation der Aktivitäten durch die Handelnden

 

Es war in der Regel kein Problem, die Handlungen und Aktivitäten von Herrn A. zu identifizieren und zu benennen. Sowohl die Autorin, als auch die MitarbeiterInnen und Herr A. selbst fanden Begriffe, die das Tun kennzeichneten. Diese Kennzeichnungen der Handlungen waren in aller Regel übereinstimmend. Malen, Spielen, Musizieren ließen sich ebenso identifizieren und benennen, wie Waschen, Anziehen, Essen, Kleinbus- fahren. Unterschiede bestanden jedoch zum Teil in den Auffassungen, ob es sich bei der jeweiligen Aktivität um Freizeit, Arbeit oder Selbstversorgung handelte. Diese Unterschiede sollen im 5. Kapitel noch näher beleuchtet werden.

Das Identifizieren und Benennen von Tätigkeiten bei Herrn B. war schwieriger. Alltagshandlungen, die die Pflegepersonen ausführten, ließen sich noch recht leicht und einheitlich als Waschen, Windeln, Anziehen etc. bezeichnen. Schwieriger wurde es, die teilweise recht subtilen Reaktionen von Herrn B. im Zusammenhang mit Handlungen anderer Menschen zu sehen und zu benennen. Am ehesten eignet sich dafür die Bezeichnung 'Reiz- Reaktion‘. Der Reiz wurde  in der Regel durch einen Mitarbeiter gesetzt, z.B. in Form von Ansprache, Körperkontakt oder Blickkontakt, auf die eine Reaktion von Herrn B. erfolgte. Diese ‚Aktivitäten‘ waren bis auf die Massage jeweils nur von recht kurzer Dauer, maximal 3 – 5 Minuten. Die MitarbeiterInnen im Wohnbereich erwähnten diese ‚Aktivitäten‘ in den Fragebögen nur beiläufig und schilderten eher die Pflegemaßnahmen. Anders die MitarbeiterInnen der Werktherapie, die auch seine Reaktionen auf taktile Reize vermerken. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass in dieser Abteilung auch therapeutisch gearbeitet wird und ergotherapeutische Begriffe bekannt sind. Bei den Aufzeichnungen handelt es sich meist eher um Beschreibungen des Verhaltens mit Hilfe mehrerer Worte, als um Begriffe, die prägnant eine Tätigkeit bezeichnen

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4.4 Die Bedeutung der Aktivitäten für die Handelnden

 

Um die Bedeutung der jeweiligen Aktivitäten für die Bewohner herauszufinden, wurden die MitarbeiterInnen mit Hilfe der Befragungsbögen sowie Herr A. in einem Gespräch dazu befragt.

Frau R., Mitarbeiterin in der Wohngruppe von Herrn A. hält eine gute Grundversorgung für wichtig, sodass Herr A. sich wohl fühlt. Zuwendung und Ansprache, Kontakt hält sie für bedeutsam. Auch Frau S. hält Kontakt und Beziehungspflege für sehr wichtig und nennt darüber hinaus noch den Erhalt der Selbständigkeit.

Frau K., Mitarbeiterin in der Seniorentagesstätte hält es für wichtig, Sinn gebende Beschäftigungen anzubieten, die Freude machen. Eine ganzheitliche Begleitung, Förderung und Erhaltung seiner Fähigkeiten sowie Spaß und Entspannung sind für sie wichtige Ziele ihrer Arbeit mit Herrn A. Für Frau M., ebenfalls Mitarbeiterin in der Seniorentagesstätte ist die Einbeziehung von Herrn A. in das Gruppengeschehen sowie Freude an der Tätigkeit von Bedeutung. Tätigkeiten, die diese Anforderungen erfüllen sind nach ihrer Meinung für Herrn A.: Musik machen, Unterhaltung, Bewegungsübungen, Ausflüge, Spaziergänge, Kreatives Tun und Backen.

Herr A. selbst äußert bei einer Befragung zu einer Situation morgens beim Baden, dass es ihm wichtig sei, mithelfen zu können. Bei einem Gespräch am Tag der Beobachtung nennt er weitere für ihn bedeutsame Betätigungen wie ‚Spülmaschine ausräumen, Post am Samstag auf die Gruppen bringen. Bei der Pflege durch die MitarbeiterInnen ist ihm wichtig, dass sich der Mitarbeiter mit ihm unterhält und er mithelfen kann, dort, wo es noch geht. Auch das Ausruhen dabei ist ihm wichtig. Während der Beobachtung wies Herr A. die Autorin dreimal ausdrücklich darauf hin, etwas aufzuschreiben. Das Umsetzen von einem Rollstuhl in den anderen, seine Hilfestellung für seinen Freund Herrn F., und das Musizieren sind offensichtlich für ihn besonders wichtige Tätigkeiten.

Die Konzentration und Präsenz, mit denen Herr A. den ganzen Tag über seinen Tätigkeiten nachging, erweckten bei der Autorin den Anschein, als ob alles, was er tat für ihn wichtig und bedeutsam war. Es mag sein, dass die Tatsache, beobachtet zu werden, zu einer starken Präsenz und Wachheit geführt haben, jedoch berichteten alle MitarbeiterInnen sowie Herr A., dass dieser Tag ‚so wie immer‘ gewesen sei. Es ist also anzunehmen, dass die Tätigkeiten von Herrn A. von ihm in der Regel als bedeutsam erlebt werden.

 

Anders bei Herrn B., die Bedeutungen der einzelnen Aktivitäten erschließen sich nicht auf den ersten Blick. Da Herr B. sich nicht selbst dazu verbal äußern kann, sind die MitarbeiterInnen und die Autorin darauf angewiesen, Rückschlüsse aus seinem Verhalten zu schließen und dieses zu interpretieren. Herr M. ein aushilfsweise auf der Wohngruppe tätiger Mitarbeiter nennt die Wahrung der Intimsphäre von Herrn B., sauberes und sanftes Arbeiten, Kommunikation sowie das Vermitteln von Sicherheit als wichtig für Herrn B. Mehrmals verwendet er den Begriff ‚Würde‘, um den Umgang mit Herrn B. zu kennzeichnen. Für Frau C. ist es wichtig, darauf zu achten, dass Herr B. in guter körperlicher Verfassung ist und dass er z.B. bei einem Spaziergang eine trockene Windel anhat. Ihr ist es wichtig, dass Herr B. am Gruppengeschehen teilhaben kann, dass er räumliche Veränderungen, Umgebungswechsel hat. Die Wahrnehmung von Wind, Geräuschen, Licht und Schatten, basale Stimulation, Wasserbett, Baden, Massagen, Düfte sind für sie Angebote, die Herr B. als ‚Reize‘ aufnehmen kann, wenn er körperlich dazu in der Lage ist, und die eine Bereicherung für sein Leben darstellen. Auch sie bezeichnet die ‚Aktivitäten‘ von Herrn B. als ‚Reaktionen‘.

 

Die Mitarbeiterin der Werktherapie Frau H. nennt als wichtige Tätigkeiten für Herrn B: Entspannungsübungen, Übungen zur Körperwahrnehmung, Lockerungsübungen, Tätigkeiten, bei denen die Sinne angesprochen werden wie Riechen, Schmecken, Fühlen, Wahrnehmungsübungen, aber auch Übungen zur Durchblutungsförderung. Nicht die Arbeitsanforderung, das Produkt der Tätigkeit ist für sie wichtig, sondern dass Herr B. sich wohl fühlt, dass er sich entspannen kann und seine Körperfunktionen angeregt werden.

Für Frau T., eine Praktikantin einer Ergotherapieschule nennt die Teilhabe am Geschehen der Gruppe und das Verstehen der jeweiligen Aktionen als wichtig. Auch sie nennt Tätigkeiten aus dem Bereich der basalen Stimulation, der Kontaktaufnahme sowie aus den Bereichen Pflege und Krankengymnastik. Das Vermeiden eines Gefühls von Isolation und bewusste Wahrnehmung der Umwelt sind ihrer Meinung nach bedeutsame Aktivitäten für Herrn B.

Zusammenfassend lassen sich folgende Bedeutungen von Tätigkeiten für Herrn B. finden:

-          Teilhabe am Leben der Gemeinschaft, Kommunikation und Kontakt, Aufbau von Beziehung

-          Wohlfühlen in körperlicher und emotionaler Hinsicht (durch gute Pflege, Krankengymnastik, Lagerung, medizinische Versorgung u.ä.)

-          Förderung und Erhalt der Wahrnehmungsfähigkeit (durch therapeutische Maßnahmen wie basale Stimulation aber auch Spaziergänge u.ä.)

 

Der Autorin fällt auf, dass die Frage nach der Wichtigkeit und Bedeutung von Tätigkeiten für Herrn B. immer aus der vermuteten Perspektive von Herrn B. heraus beantwortet wurde. Was tut ihm gut, was ist für ihn wichtig? Keiner stellte die Frage, ob das, was Herr B. tut, für die Umwelt von Bedeutung ist. Dies mag an der Art der Fragestellung der Autorin gelegen haben. Jedoch stellt sich ihr im Nachhinein die Frage, welche Antworten die Beteiligten wohl auf die Frage nach der Bedeutung der Tätigkeiten für die andern, für das Umfeld gegeben hätten. Ist es für die MitarbeiterInnen der Korbflechterei von Bedeutung, dass Herr B. in ihrer Gruppe ist? Aus den Antworten der Befragung einiger behinderter MitarbeiterInnen der Arbeitsgruppe (vergl. Anlage 5) wagt die Autorin ein vorsichtiges Ja, da eine Mitarbeiterin von einer Veränderung spricht, die bei ihr stattgefunden habe. Zuerst habe sie Herrn B. ausgelacht, aber später nicht mehr. Seine Präsenz hat offensichtlich etwas bewirkt. Offensichtlich gibt es aber noch keine Worte bei den behinderten MitarbeiterInnen dafür und auch für die pädagogischen, pflegerischen und therapeutischen MitarbeiterInnen gibt es noch keine Begrifflichkeit und kein Bewusstsein für diesen Aspekt. Die Sichtweise der MitarbeiterInnen lässt sich mit der Frage zusammenfassen: „Was können wir für Herrn B. tun?“ die Fragen lauten gegenwärtig noch nicht: „Was bewirkt Herr B. bei uns?“, „Welche Bedeutung hat seine Aktivität für uns?“

Die Bedeutsamkeit der Aktivitäten von Herrn B. liegen sicherlich nicht im produktiven Bereich. Herr B. kann nichts produzieren, was materiell fassbar wäre. Ein ‚Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit‘, wie es noch bis vor kurzem in den Richtlinien zur Aufnahme in eine Werkstatt für Behinderte hieß, ist von Herrn B. nicht zu erwarten und wird auch niemals möglich sein. Wenn unser Blickwinkel sich nur in diese Richtung öffnet, hätte Herr B. keine ‚Betätigungen‘ vorzuweisen. Erst wenn wir unsere Blickrichtung ändern und nicht auf ein äußeres Produkt richten, sondern uns nach Innen wenden, erschließen sich neue Perspektiven. Alle berichten von seinem ‚strahlenden Blick‘, manch einer schildert, dass es ihn froh macht, wenn Herr B. den Blickkontakt erwidert. Dies sind Bedeutsamkeiten auf der Beziehungsebene, hier wird unser Menschsein, unser innerer Kern angesprochen, der Bereich, der im Kanadischen Modell mit Spiritualität bezeichnet wird. Im 5. Kapitel wird dieser Aspekt auf dem Hintergrund der beiden eingangs beschriebenen ergotherapeutischen Modelle noch etwas näher ausgearbeitet werden.

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4.5    Zusammenfassung

 

Aus diesen Ausführungen lässt sich für Herrn A. eindeutig feststellen, dass es sich bei seinen Tätigkeiten und ‚Betätigungen‘ im Sinne der von CHRISTIANSEN (1995,7) geforderten Kriterien handelt, auch wenn Herr A. dabei z.T. auf Hilfestellung durch andere Menschen angewiesen ist.

Bei Herrn B. lassen sich die Aktivitäten eher als ‚Reiz- Reaktions‘ Schemata bezeichnen. Die komplexeren Handlungsabläufe, in denen die MitarbeiterInnen z.B. eine Pflegetätigkeit durchführen, lassen sich als Betätigungen der Mitarbeiter bezeichnen. Hier werden die MitarbeiterInnen stellvertretend für Herrn B. tätig, der nicht mehr Subjekt, sondern Objekt des Handelns anderer wird. Zum Subjekt wird Herr B. jedoch nicht durch seine Betätigungen, sondern durch seine Präsenz.

Nicht sein Betätigungsverhalten ist bedeutsam, sondern das, was er aufgrund seiner Präsenz zu bewirken vermag. Diesen Aspekt zu verdeutlichen soll Aufgabe des nächsten Kapitels sein.

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5       Diskussion:

Sind aufgrund der Ergebnisse der Studie das Model of Human Occupation nach Kielhofner (MOHO) und das Kanadische Modell der Occupational Performance eine Hilfe zur Erfassung und Darstellung des Betätigungsverhaltens von Menschen mit schweren Behinderungen?

 

Zu Beginn der Arbeit wurde die Frage aufgeworfen, ob die beiden oben genannten ergotherapeutischen Modelle des menschlichen Betätigungsverhaltens hilfreich für die Erfassung und Darstellung des Betätigungsverhaltens von Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen sind.  Diese Frage soll in den nachfolgenden Abschnitten beantwortet werden.

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5.1    Die Anwendbarkeit des Models of Human Occupation nach Kielhofner bei Herrn A.

 

Einige der Betätigungen, die bei Herrn A. aufgeführt wurden, finden sich in der Interessencheckliste, die im Rahmen des Kielhofner Modells angewendet wird (vergl. Anlage 9). Im Rahmen der Studie wurden in unterschiedlichen Zusammenhängen folgende Betätigungen für Herrn A. genannt: Radio hören, Spazieren gehen, Besuche abstatten, Reisen, Gesellschaftsspiele, Vereine, Theaterbesuch, Naturbeobachtungen, Religion, Backen sowie Malen. Für eine systematische Erfassung der Interessen von Herrn A. könnte die Anwendung dieser Checkliste sinnvoll sein. Die Autorin hat jedoch im Rahmen einer andern Arbeit selbst ein adaptiertes Verfahren erstellt, wie die Interessen bei älteren Menschen mit einer geistigen Behinderung erfasst werden können, und dabei behinderungsbedingte Einschränkungen berücksichtigt werden.

Der Fragebogen zur Volition (vergl. Anlage 10) enthält ebenfalls viele Formulierungen, die auch in den Beobachtungsbögen zu finden sind, wie z.B. „versucht, Probleme zu lösen“, „versucht, andere zu unterstützen“, „zeigt Vorlieben“, „ist lebhaft, aktiv“, „zeigt, dass eine Aktivität ihm etwas bedeutet.“ Diese Beschreibungen mit den dazu gehörenden Ausführungen sind sicherlich auf Herrn A. anwendbar. Da es sich bei seinen Aktivitäten eindeutig um Betätigungsverhalten im ergotherapeutischen Sinne handelt, ist davon auszugehen, dass auch die anderen Assessmentverfahren, die MOHO anbietet, bei Herrn A. anwendbar sind.

Herr verfügt über ein Selbstbild, deutliche Werte und starke Interessen und zeigt somit eine ausgeprägte ‚Volition‘. Er nimmt in seinem Alltag mehrere Rollen ein, sein Tagesablauf ist durch verschiedene Gewohnheiten strukturiert. Auch der Aspekt ‚Habituation‘ ist so bei ihm mit Substanz gefüllt. Trotz seiner starken Einschränkungen im Bereich ‚Geist- Gehirn- Körper- Performanz‘ ist er in der Lage, die verbliebenen Funktionen bewusst und in seinem Interesse einzusetzen. Trotz seiner schweren Behinderung ist er als Person von einer hohen Integrität.

Er benötigt eine Umwelt, die seinen behinderungsbedingten Einschränkungen Rechnung trägt, um das ihm verbliebene Betätigungsverhalten auch ausführen zu können. Seine räumliche Umgebung muss rollstuhlgerecht sein, einige Objekte seines Alltags müssen adaptiert werden, er benötigt Hilfsmittel.  Die Betätigungsformen müssen seinen Fähigkeiten entsprechend teilweise für ihn  modifiziert werden. Herr A. ist in unterschiedlichen sozialen Gruppen, die sich jedoch fast ausschließlich in der Institution befinden, eingebunden.

Die Elemente, die das Model of Human Occupation nach Kielhofner aufweist, eignen sich, um das Betätigungsverhalten von Herrn A. zu untersuchen und um sich ein Bild von seiner Person zu machen. Im Fragebogen zur Volition wird auch die Qualität der Umwelt mit erfasst, deren Gestaltung für Herrn A. eine Voraussetzung für das Wirksamwerden seiner Betätigungsmöglichkeiten bildet.

Somit erweist sich das Model of Human Occupation nach Kielhofner  sowie die damit verbundenen Assessmentverfahren als grundsätzlich anwendbar auf Menschen mit schwersten Behinderungen wie Herrn A.

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5.1 Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occupational Performance auf Herrn A.

 

Auch das Kanadische Modell (vergl. Abb.2) lässt sich bei Herrn A. anwenden. Alle dort aufgeführten Begriffe finden sich in seinem Alltag wieder.

Für den Bereich Umwelt (Abb. 2 grüner Kreis) gilt dasselbe wie im Modell KIELHOFNER’S. Die Umwelt stellt für Herrn A. den Rahmen seines Lebens dar. Sie muss seinen Bedürfnissen entsprechend gestaltet sein. Der Bereich der Betätigung (Abb. 2 blauer Kreis) ist die verbindende Zone zwischen der Umwelt und der Person. Durch die Betätigungen tritt der Mensch in Beziehung  und Austausch mit der Umwelt. Bei einer Unterteilung der Betätigungen in die Bereiche: Produktivität/ Arbeit, Selbstversorgung und Freizeit lassen sich für Herrn A. keine eindeutigen Zuordnungen der einzelnen Betätigungen zu diesem Bereichen machen.

Herr A. sagt beispielsweise von sich selbst, dass er nicht mehr arbeite, sondern nur noch Beschäftigungen wie ‚Spülmaschine ausräumen‘ und ‚Post verteilen‘ nachgehe. Arbeit sind für ihn z.B. die pflegerischen Tätigkeiten der MitarbeiterInnen sowie seine frühere Tätigkeit in der Holzwerkstatt und in der Küche. Frau R., Mitarbeiterin aus dem Wohnbereich, ordnet das Ausräumen der Spülmaschine sowie die Verteilung der Post sowohl dem Freizeitbereich als auch der Selbstversorgung zu.

Für die Mitarbeiterin in der Seniorentagesstätte stellt z.B. das ‚Malen‘ eine Arbeit dar, eine andere Mitarbeiterin streicht den Begriff Arbeit durch. Hätte in diesem Befragungsbogen statt ‚Arbeit‘ der Begriff ‚Produktivität‘ gestanden, hätten die Antworten bei Herrn A., der ja Rentner ist, vermutlich etwas anders ausgesehen. Für den Bereich Freizeit werden verschiedene Tätigkeiten genannt, wie z. B. ‘In Urlaub fahren‘, ‚Musik machen‘, ‚Ausflüge machen‘ etc. Diese Zuordnungen entsprechen dem, was im Allgemeinen auch unter Freizeit verstanden wird. Unter dem Begriff ‚Selbstversorgung‘ werden Tätigkeiten aufgeführt, bei denen er weit-gehend auf Hilfe angewiesen ist, wie Waschen, Baden, Anziehen etc.

Als Person (Abb. 2 rotes Dreieck) verfügt Herr A. über viele Fähigkeiten im affektiven, kognitiven und physischen Bereich, die, wenn auch eingeschränkt, so ihm aber dennoch gezieltes Handeln und Ausdruck seiner Persönlichkeit ermöglichen.

Was den Bereich Spiritualität kennzeichnet (Abb. 2 gelber Kreis), lässt sich auf den ersten Blick nicht so deutlich erkennen. Zwar bezeichnet sich Herr A. als Christ und nimmt an religiösen Aktivitäten teil, was die eigentliche Spiritualität ausmacht, lässt das Kanadische Modell jedoch weitestgehend offen. Die Spiritualität wird umschrieben durch ihre Wirkung auf die Person, also durch das, was sich in der Persönlichkeit abbildet. Es ist die ‚Energie‘, der ‚Motor‘ mit dem die Person auf die Umwelt wirkt und diese verändert. Die ‚Essenz‘ dieser ‚Energie‘ wird nicht beschrieben. Offensichtlich fehlen hierfür gegenwärtig die Begriffe.

 

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch das Kanadische Modell der Occupational Performance über die wesentliche Begriffe verfügt, einen Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen wie Herrn A. als Person und in seinem Betätigungsverhalten zu beschreiben. Im Gegensatz zum Modell Kielhofner’s liegt hier der Schwerpunkt nicht auf dem Betätigungsverhalten, sondern geht klientenzentriert von der Person aus und hat somit einen anderen Blickwinkel.

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5.3    Die Anwendbarkeit des Models of Human Occupation nach Kielhofner bei Herrn B.

 

Im Gegensatz zu der recht einfachen Zuordnung des Betätigungsverhaltens von Herrn A. in die beiden Modelle  erscheint es der Autorin schwierig, das Betätigungsverhalten von Herrn B. mit Hilfe der im Model of Human Occupation nach Kielhofner angebotenen Assessmentverfahren zu beschreiben. Herr B. zeigt durchgängig nur sehr minimale Aktivitäten, geschweige denn eindeutige Betätigungsverhalten. Beim Fragebogen zur Volition wären beispielsweise lediglich die Punkte „zeigt Neugier“, „ist lebhaft“ und „zeigt, dass eine Aktivität ihm etwas bedeutet“ für bestimmte Zeiten am Tag anders als durch die Begriffe „passiv“ zu beantworten.

Auch ACIS, das zu MOHO gehörende Assessment der Kommunikations- und Interaktionsfähigkeiten  (FORSYTH,K. et al. 1995, nach einer Übersetzung von MENTRUP, C. 1997), formuliert so hohe Anforderungen, dass Herr B. aufgrund seines sehr eingeschränkten Betätigungsverhaltens nur im Bereich Blickkontakt andere als minimale Werte erreichen kann. Seine schwere Behinderung führt zu einer sehr schwachen‚ Geist- Gehirn- Körper- Performanz‘, die eine Ausbildung üblicher Rollen kaum zulässt. MitarbeiterInnen und ArbeitskollegInnen sehen Herrn B. in der Rolle des Hilfebedürftigen, der Unterstützung, Pflege, Ansprache bedarf.

Das Model of Human Occupation von Kielhofner setzt ‚Volition‘, ‚Habituation‘ und ‚Geist– Gehirn– Körper- Performanz‘  voraus und legt den Fokus auf die Betätigung des Menschen. In diesem Modell findet sich wenig Raum für die Persönlichkeit von Herrn B, die sich eben gerade nicht in seinem Betätigungs-verhalten, sondern in seiner Präsenz entfaltet. 

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5.4    Die Anwendbarkeit des Kanadischen Modells der Occuaptional Performance auf Herrn B.

 

Anders das Kanadische Modell der Occupational Performance, in dem die Betätigungen in den Zusammenhang von Umwelt und Person, deren Kern die Spiritualität ist, eingebettet sind. Zwar wird auch hier die Person aus dem Zusammenspiel affektiver, kognitiver und physischer Komponenten her definiert, die sich aber um einen Kern herum formieren, der als Spiritualität bezeichnet wird. Dieser Kern wird als das Wesentliche der Person bezeichnet, ohne dies näher zu beschreiben. Dieser Ansatz eröffnet nach Ansicht der Autorin den Raum, der notwendig ist, um sich der Bedeutung des Lebens von Herrn B. annähern zu können. Da für ihn der gesamte Bereich von Betätigung im eigentlichen Sinn nicht existiert, steht er bildlich gesprochen mit dem Kern seiner Person in Bezug zur Umwelt. Die ‚schützende Hülle‘, die normalerweise durch die kognitiven, affektiven und physischen Fähigkeiten besteht, und die sich im Betätigungs-verhalten äußert, ist so gut wie nicht vorhanden. Die Autorin hat, um dies zu verdeutlichen, das kanadische Modell graphisch modifiziert (Abb. 3). Hieran wird deutlich, was sich verändert, wenn das Betätigungsverhalten und die persönlichen Fähigkeiten aufgrund einer Behinderung sehr stark eingeschränkt sind. An diesem Modell kann man sehen, dass wir Herrn B. sozusagen an der Grenze zu dem Bereich, den wir normalerweise als unser Innerstes schützen, begegnen, an dem Bereich, der über uns hinaus geht, der uns ‚transzendiert‘.

  

 

Abbildung 3:    Abwandlung des kanadischen Modells der ‘Occupational Performance’ für Menschen mit sehr geringem Betätigungsverhalten (U. Dürrbeck 2000 modifiziert nach CAOT 1997)

 

Zwar spielt sich das Leben von Herrn B. in den normalen Strukturen wie Freizeit, Arbeit, Selbstversorgung ab, aber bereits die Zuordnung seiner Aktivitäten zu diesen Bereichen ist sehr uneinheitlich. Seine ArbeitskollegInnen bezeichnen seine Tätigkeiten im Arbeitsbereich nicht als Arbeit (vergl. Anlage 5), für die MitarbeiterInnen im Arbeitsbereich stellen Aktivitäten wie ‚sich entspannen‘  für Herrn B. bereits Arbeit dar. ‚Spazierengehen‘ hingegen ist eine Tätigkeit, die sowohl im Bereich Wohnen/Freizeit, als auch im Bereich Arbeit als Aktivität mit Herrn B. durchgeführt wird. Die Unterteilung der Aktivitäten von Herrn B. in die Bereiche Produktivität / Arbeit und Freizeit sowie Selbstversorgung erscheint von geringer Bedeutung. Wichtiger sind andere Begriffe wie ‚Sich - Wohlfühlen‘, ‚Teilhabe‘, ‚Abwechslung‘ und ‚Kommunikation‘, die sich durch alle Bereiche ziehen. Die Unterteilung in Arbeit / Produktivität, Freizeit und Selbstversorgung ist eher ein Konstrukt, welches zu einer klaren Tagesstruktur verhilft und ‚Normalität‘ aus Sicht der ihn umgebenden Menschen erzeugt.

Im Rahmen des Kanadischen Modells ist es nach Ansicht der Autorin möglich, einen Platz für die Persönlichkeit des Herrn B. zu finden. Da der Fokus auf dem Klienten liegt, dessen Kern trotz behinderungsbedingter Einschränkungen als integer bezeichnet werden muss, ergeben sich hier neue Ansätze für Fragestellungen. Diese sollen im letzten Kapitel dargestellt werden.

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6           Zusammenfassung, Ausblick

 

Zusammenfassend stellt die Autorin fest, dass es Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen, wie z. B. Herrn A. gibt, bei denen ein Betätigungs-verhalten erkennbar und beschreibbar ist und deshalb auch mit Hilfe des Models of Human Occupation nach Kielhofner sowie mit Hilfe des Kanadischen Modells der Occupational Performance erfassbar und darstellbar ist.

Es gibt aber auch Menschen, wie Herrn B, deren Behinderung so stark ist, dass Betätigungen im Sinne ergotherapeutischer Definitionen nur sehr begrenzt beschreibbar sind. Wenn man für die Beschreibung dieser Menschen Modelle heranzieht, deren Fokus auf dem Betätigungsverhalten liegt, so kann man diesen Menschen nicht mehr gerecht werden, da ihr Betätigungsverhalten extrem defizitär ist.

Das Kanadische Modell stellt nach Ansicht der Autorin ein geeigneteres Modell zur Beschreibung dieses Personenkreises dar, da es nicht das Betätigungsverhalten des Menschen fokussiert, sondern das Zusammenspiel zwischen dem Menschen und seiner Umgebung. Die Erweiterung des Verständnisses der menschlichen Person um den Begriff ‚Spiritualität‘ eröffnet einen neuen Raum, um der Persönlichkeit von Menschen mit sehr schweren Behinderungen gerecht zu werden. Sie können über ihr Betätigungsverhalten nicht zu Subjekten werden, da sie in diesem Bereich immer auf die vollständige Hilfe anderer Menschen angewiesen sind. Im Kern ihrer Person aber, dort wo sie ‚nur‘ präsent sind, wirken sie auf ihr Umfeld ein und werden so zum Subjekt, zu Handelnden. Nicht ihr ‚Tun‘ ist das Wesentliche ihrer Existenz, sondern das ‚Sein‘.

Ergotherapeuten, deren berufliches Verständnis stark an die Handlungsebene, das Tun gekoppelt ist, fällt es, wie anderen Menschen auch, schwer, diesen Bereich in ihrer Arbeit zu beachten. Auseinandersetzungen mit diesem Thema finden sich denn eher, wenn überhaupt in der theologischen und philosophischen Literatur sowie bei einigen Schriftstellern. Die Autorin, die selbst seit vielen Jahren zur Gemeinschaft der Arche gehört, in der Menschen mit schweren Behinderungen gemeinsam mit nichtbehinderten Menschen leben, hat die Erfahrung gemacht, dass gerade Menschen, die wenig tun können, durch ihre Persönlichkeit, durch ihre Präsenz einen wertvollen Beitrag zum Leben der Gemeinschaft geben, dass sie Kräfte in uns wecken und uns sensibler füreinander machen. Es gibt einen etwas altertümlich Ausdruck dafür, sie wirken ‚gemütsbildend‘,

Nach Meinung der Autorin ist es lohnenswert, das Leben und die Aktivitäten von Menschen mit sehr schweren Behinderungen auf dem Hintergrund einer solchen Fragestellung  zu erforschen und zu beschreiben. Das eingangs zitierte Buch des Theologen und Arche- Mitglieds Henry NOUWEN : ‚Adam und ich‘ schildert genau diese Fähigkeit schwerstbehinderter Menschen, gemeinschaftsbildend und gemütsbildend zu wirken, wenn die Umgebung sich dieser Herausforderung stellt.

 

Mögliche Fragestellungen für weitere Forschungen könnten sein:

-          Welche Wirkungen haben Menschen mit schweren Behinderungen auf ihr Umfeld?

-          Verändern Menschen mit schweren Behinderungen etwas im Verhalten, in der Einstellung der Menschen ihrer Umgebung? Was verändern sie?

-          Wie lässt sich der im kanadischen Modell enthaltene Begriff ‚Spiritualität‘ näher beschreiben und erfassen? Was beinhaltet er?

-          Wie muss die Umwelt von Menschen mit schwersten Mehrfachbehinderungen im Sinne des Herrn B. gestaltet sein, damit ‚Spiritualität‘ sich entfalten kann?

Zur Bearbeitung dieser Forschungsfrage, könnte man zum einen, qualitative Untersuchungen anstellen, um die Phänomene zu beschreiben, zum anderen handelt es sich bei der Frage nach der Spiritualität um einen Begriff, für den sich eher die Geisteswissenschaften zuständig fühlen. Ein interdisziplinärer Ansatz zur Bearbeitung einer solchen Fragestellung erscheint der Autorin deshalb als wünschenswert. Gerade in Zeiten, wo zunehmend auf Leistung und Produktivität im materiellen Sinn geschaut wird, können solche Fragestellungen helfen, wesentliche Aspekte unseres Menschseins wieder in den Blick zu bekommen und das Leben nicht nur unter dem Aspekt der ‚Machbarkeit‘, sondern auch unter dem Aspekt des ‚Seins‘ zu sehen. ‚Produktivität‘, ‚Betätigung‘ lebt immer auf ein Ziel hin, lebt für die Zukunft. Das ‚Sein‘ ist ‚Präsenz‘, ist Gegenwart im Hier und Jetzt, absichtslos, es ist Leben in seiner ursprünglichsten Form, verletzbar  aber ganz real. Menschen mit sehr schweren Behinderungen lehren uns, diese Präsenz zu leben und auszuhalten, es ist nicht wichtig, was morgen ist, nur heute, jetzt zählt. Dieses Leben im Moment, in der Gegenwart wird in vielen Religionen als Ausdruck von Spiritualität betrachtet. Und hier schließt sich der Kreis. Das Unvermögen manches schwerstmehrfach behinderten Menschen zur Betätigung konfrontiert uns mit dem Anspruch, ganz präsent zu sein, um auf ihre Präsenz antworten zu können. Hier liegt eine Chance, unsere Spiritualität zu leben oder zu entdecken. Eine Herausforderung wissenschaftlicher aber vor allem menschlicher Art.

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7.      Literaturverzeichnis

 

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